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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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zum Flügel gegangen, auf dem Leas Noten lagen. Sie suchte sie aus den übrigen Noten heraus, schob sie mit penibler Sorgfalt zu einem sauberen Stoß zusammen und trug sie aus dem Zimmer. Einen Moment lang hatte sie gezögert, und ich hatte gedacht, sie würde sie mir reichen, damit ich sie mitnähme, wo sie doch in dieser Wohnung nun nie mehr gespielt würden. Doch dann hatte sie sie hinausgetragen, und ich hatte das Geräusch einer Schublade gehört.«
    Van Vliet hielt inne und wandte das Gesicht zum See, die Augen geschlossen. Das Bild, das er jetzt vor sich sah, mußte er Tausende von Malen vor sich gesehen haben. Es war ein Bild von enormer Wucht, und es tat ihm auch jetzt noch so weh, daß er zögerte, davon zu sprechen.
    »Lea legte immer ein Tuch, ein weißes Tuch, über die Kinnstütze der Geige. Sie hatte viele solche Tücher, das Geschäft, wo man sie kaufen konnte, haben wir zusammen gefunden. Eines dieser Tücher lag auf dem Fenstersims. Als Marie wieder hereinkam, ließ sie den Blick kreisen und fand es. Sie trug es hinaus. Ich bin sicher, sie wollte nicht, daß ich es sähe, aber das Verlangen war stärker, und so geschah es unter der Tür, noch in meinem Blickfeld: Sie roch an dem Tuch. Fest drückte sie die Nase hinein, nahm auch noch die andere Hand dazu und drückte das ganze Tuch vors Gesicht. Sie schwankte ein bißchen, wie sie dort stand, blind dem Geruch von Lea hingegeben.«
    Er hat mir nie ein Bild von Marie gezeigt. Und doch sehe ich sie vor mir, das Gesicht ins Tuch gedrückt. Ich brauche nur die Augen zu schließen, schon sehe ich sie. Sie hat helle Augen voller Hingabe, wohin sie auch blickt.
    »Wir rätselten, ob die Zeichen auf ihrem Kleid japanisch oder koreanisch waren. Marie löschte das Licht. Wir spürten die Leere, die Lea in dem Raum hinterließ, den sie mit ihren Tönen gefüllt hatte. Und dann klammerten wir uns aneinander, plötzlich, heftig, und ließen uns erst wieder los, als es hell wurde.«
    Er lächelte, wie auch Tom Courtenay lächeln könnte, mitten im Unglück. »Liebe um einer Dritten willen. Liebe aus verschränkter Verlassenheit. Als Bollwerk gegen den Schmerz des Abschieds. Liebe, die eigentlich gar nicht den anderen meint. Eine Liebe, die, was mich angeht, mit neun Jahren Verzögerung gelebt wurde, im Schatten des Wissens um diese Verzögerung, ein Schatten, der dazu führte, daß sich die Gefühle nach und nach verfärbten. Und sie? War ich einfach das Band, das sie mit der verlorenen Lea verknüpfte? Der Garant dafür, daß Lea nicht ganz aus der Welt war? Es war für uns beide lange her, daß wir jemanden umarmt hatten. Wollte sie mit meinem Verlangen ihr Verlangen nach Lea ersticken? Ich weiß es nicht. Wissen wir irgend etwas?
    Vor einem halben Jahr habe ich sie aus der Ferne gesehen. Sie ist jetzt dreiundfünfzig, keine alte Frau, aber sie sah müde aus und erloschen. ›Danke, daß du mir Lea gebracht hast‹, sagte sie, als wir uns das letzte Mal sahen. Die Worte schnürten mir die Kehle zu. Ich träumte davon. Auch heute wache ich noch ab und zu auf und denke, ich hätte sie im Traum gehört.
    Verstand sie, was geschehen war? Mit Lea und dann mit mir? Es war doch Marie. Die Frau, die stets Klarheit suchte. Die Frau mit der Leidenschaft des Verstehens. Die Frau, die stets wissen wollte, warum die Leute taten, was sie taten, und die es ganz genau wissen wollte. Doch vielleicht wollte sie es dieses Mal gar nicht wissen, vielleicht brauchte sie das Unverstandene als Bollwerk gegen Schmerz und Verlassenheit. Wir haben, bis zu jenen Worten beim Abschied, nie mehr über Lea gesprochen, kein einziges Mal. Anfänglich war sie zwischen uns gegenwärtig durch ihre betäubende Abwesenheit. Nach und nach dann blich auch diese Abwesenheit aus. Lea wurde in Maries Räumen zum Phantasma.«
    Van Vliet kam von der Toilette zurück. Wir bestellten die dritte Flasche Wein. Das meiste hatte er getrunken.
    »Ich will Lévy gar nicht die Schuld geben. Er war einfach ein Unglück für Lea, ein großes Unglück. Wie es eben für einen Menschen ein Unglück sein kann, einem anderen zu begegnen.
    Doch so kann ich es erst heute sehen. Damals war es ganz anders. Es machte mich krank, daß sie jeden zweiten Tag nach Neuchâtel fuhr. Er ist nicht diese Art Mann. Ich denke, Marie hatte recht. Ich lag auf der Lauer. Suchte nach Anzeichen. Sie kaufte Kleider und wollte mich nicht dabeihaben. Parfum. Lippenstift, den sie abwischte, bevor sie das Haus betrat, ich habe es gesehen. Sie wuchs

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