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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ließen mich zum voraus spüren, wie schrecklich der Absturz gewesen sein mußte, der von jenem glanzvollen Augenblick im Ballsaal von St. Moritz bis zu Leas Aufenthalt im Hospiz von Saint-Rémy führte, wo Van Vliet seine Tochter hinter dem Stoß von Brennholz gesehen hatte, wie sie gedankenverloren mit dem Daumen die Kuppe des Zeigefingers entlangfuhr. Elle est brisée dans son âme , hatte der Arzt gesagt. Der Maghrebiner.
    »Wie gesagt: sakral«, fuhr Van Vliet jetzt fort und schwieg dann wieder eine Weile. »Später, als ich mehr wußte, habe ich manchmal gedacht: Sie hatte gespielt, als baute sie sich eine imaginäre Kathedrale aus Tönen, in der sie einmal geborgen sein könnte, wenn sie das Leben nicht mehr ertrüge. Vor allem auf der Reise nach Cremona habe ich das gedacht. Und dann habe ich dort im Dom gesessen, als sei er jene imaginäre Kathedrale.« Er schluckte. »Es war schön, diese Verrücktheit zu denken, immer wieder, morgens und nachmittags und abends. Es war, als könnte ich dadurch Verbindung aufnehmen zu der absonderlichen Art und Weise, in der Lea inzwischen dachte und fühlte. Manchmal nämlich, in einer verborgenen und verschlossenen Kammer meines Inneren, habe ich Lea um den Eigensinn beneidet, der sie von allem Gewöhnlichen und Vernünftigen wegführte. Im Traum war ich einmal mit ihr hinter dem Brennholz in Saint-Rémy. Die Konturen aller Dinge, auch die unseren, verliefen und lösten sich auf wie auf einem Aquarell aus blassen, zu stark verdünnten Farben. Es war ein kostbarer Traum, den ich bis weit in den Tag hinein festzuhalten versuchte.«
    Und das war der Mann, dachte ich, den die Bücher über Marie Curie und Louis Pasteur gerettet hatten, der Mann, den sein wissenschaftlicher, algorithmischer Verstand zum jüngsten Professor an der Berner Hochschule gemacht hatte.
    »Lea verbeugte sich. Ich dachte an ihre erste Verbeugung zurück, damals nach dem Rondo. Ich habe Ihnen erzählt, was mich daran beunruhigt hatte: Sie hatte sich verbeugt, als hätte die Welt gar keine andere Wahl , als ihr zuzujubeln; als könnte sie den Applaus einfordern . Die junge Frau, die an die Stelle des kleinen Mädchens getreten war, forderte dasselbe. Doch jetzt kam es mir viel gefährlicher vor als damals: Dem kleinen Mädchen, dachte ich, hätte man irgendwie erklären können, daß Zuhörer ihr eigenes Urteil hatten; der siebzehnjährigen Lea, wie sie dort auf der Bühne des Ballsaals stand, hätte das niemand erklären können, schlechterdings niemand.
    War der Beifall lauter und länger als bei Solvejg? Ich wußte, daß Lea, während sie ihre knappen, fast herrischen Verbeugungen machte, die dennoch etwas Linkisches hatten, nur an diese eine Frage würde denken können. Daß sie jede einzelne Sekunde in der bangen Hoffnung durchlebte, der Applaus möge unvermindert auch noch in die nächste Sekunde hineinreichen und auch danach weitergehen, Sekunde für Sekunde, bis ganz klar wäre, daß er das lange, enthusiastische Klatschen nach dem Vortrag von Solvejg übertroffen hatte.
    Das war es, was ich von meiner Tochter gern ferngehalten hätte: dieses atemlose Lauschen ins Publikum hinein, dieses Fiebern nach Beifall und Anerkennung, diese Sucht nach Bewunderung und das Gift der Enttäuschung, wenn der Beifall schwächer und knapper ausfiel als erträumt.
    Ihr Gesicht war mit einem Film von Schweiß überzogen, als sie nachher zu uns kam. Alexander Zacharias, den letzten Kandidaten, wolle sie nicht hören, sagte sie mit einer Bestimmtheit, hinter der man die Angst und Verletzlichkeit spürte. Und so verließen wir das Hotel und traten in dichtes Schneegestöber hinaus. Weder Marie noch ich trauten uns zu fragen, wie sie ihren Auftritt erlebt hatte. Ein falsches Wort, und sie würde zerspringen. Während unsere Schuhe auf dem Schnee knirschten, dachte ich wieder einmal an den Moment im Berner Bahnhof zurück, als sich die kleine Lea plötzlich meinem Versuch widersetzt hatte, sie an mich zu ziehen.
    ›Ich möchte wie Dinu Lipatti sein‹, sagte sie nach einer Weile. Später erzählte mir Marie von dem rumänischen Pianisten, und wir überlegten, was Lea gemeint haben könnte. Hatte sie ihn mit George Enescu, dem rumänischen Geiger, verwechselt? Ich kaufte mir eine Platte mit Dinu Lipatti. Wenn ich sie in der leeren Wohnung hörte, versuchte ich mir vorzustellen, wie Lipatti als Geiger geklungen hätte. Ja, dachte ich, ja, genau. Doch ich jagte einem Phantom nach, einem der vielen Phantome, gegen Ende

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