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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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waren es nur noch Phantome, die mein Handeln bestimmten, eine ganze Armee von Phantomen. Lea hatte Lipatti wirklich mit Enescu verwechselt. Sie wollte es nicht wahrhaben und stampfte auf. Ich zeigte ihr die Platte. Sie riß das Fenster auf und warf sie hinaus. Warf sie einfach zum Fenster hinaus. Das Scheppern, als die Plastikhülle auf dem Asphalt aufschlug, war schrecklich.»
    Van Vliet schwieg eine Weile. Ein fernes Echo seines damaligen Entsetzens lag in diesem Schweigen. »Das war, nachdem David Lévy in ihr Leben getreten war und alles zerstört hatte.«

17
    MIT DAVID LÉVY BEGANN eine neue Zeitrechnung im Leben von Vater und Tochter. Und mit der Erwähnung seines Namens begann auch ein neues Kapitel in Van Vliets Erzählung, oder besser: in seinem Erzählen. Denn neu waren vor allem die Heftigkeit und Unordnung, mit der er nun von all den Dingen sprach, die in ihm seit Jahren wüteten. Bisher hatte es eine Reihenfolge des Erzählens gegeben, die eine ordnende Hand erkennen ließ, einen Regisseur des Erinnerns. Von nun an, so kam es mir vor, gab es in Van Vliet nur noch einen reißenden Strom von Bildern, Gedankenfetzen und Gefühlen, der über die Ufer trat und alles andere, was er auch noch war, mit sich fortriß. Er hatte sogar vergessen, vom Ausgang des Wettbewerbs zu berichten, ich mußte ihn daran erinnern.
    »Es herrschte vollkommene Stille im Saal, als der Vorsitzende der Jury auf die Bühne kam, um das Ergebnis der Beratungen zu verkünden. Seine Bewegungen waren zögerlich, man sah: Es tat ihm leid für die Kandidaten, die er enttäuschen mußte. Er setzte die Brille auf und entfaltete umständlich das Blatt, auf dem die Namen der drei ersten Kandidaten standen. Er würde mit dem dritten Platz beginnen. Lea hatte die Hände ineinander gekrampft und schien kaum zu atmen. Marie biß sich auf die Lippen.
    Solvejg Lindström war dritte geworden. Wieder überraschte sie mich und warf mir meine Erwartungen wie schäbige Vorurteile zurück. Ich hatte Enttäuschung erwartet und ein dünnes, tapferes Lächeln. Doch ihr sommersprossiges Gesicht strahlte, sie genoß den Beifall und verbeugte sich mit Anmut, sogar das Kleid schien jetzt ganz in Ordnung. Sie war die Unscheinbarste von allen und diejenige, die am wenigsten für sich einnahm. Aber sie war, dachte ich, die Souveränste, und als ich sie mit meiner bis zum äußersten angespannten Tochter verglich, gab es mir einen Stich.
    Was den ersten und zweiten Platz angehe, sagte der Vorsitzende, habe die Jury lange gerungen. Beide Kandidaten hätten durch technische Brillanz wie durch Tiefe der Interpretation beeindruckt. Am Ende habe die Entscheidung gelautet: Alexander Zacharias Platz eins, Lea van Vliet Platz zwei.
    Und dann geschah es: Während Zacharias aufsprang und auf die Bühne eilte, blieb Lea sitzen. Ich wandte mich zu ihr. Ihren leeren Blick werde ich nie vergessen. War es einfach die Leere einer lähmenden Enttäuschung? Oder lagen darin Indignation und Wut, die sie auf ihrem Stuhl festhielten? Marie legte ihr die Hand auf die Schulter und bedeutete ihr aufzustehen. Da erhob sie sich endlich und ging mit linkischen Bewegungen nach oben.
    Der Beifall für Zacharias war bereits verebbt, der neue für Lea war matt, man konnte Mißbilligung heraushören. Vielleicht nur überrascht, vielleicht auch widerstrebend, nahm Lea die Hände der beiden anderen und verbeugte sich mit ihnen. Es tat weh, es tat so schrecklich weh, meine Tochter dort oben zwischen den beiden anderen zu sehen, die sie mit ihren Armen zu einer Verbeugung zwangen, die sie – jeder konnte es sehen – nicht wollte und die viel knapper und steifer ausfiel als bei den anderen. Sie wirkte so allein dort oben, allein und ausgestoßen, ausgestoßen durch sich selbst, und ich dachte daran, wie wir nach dem Kauf der ersten ganzen Geige abends in der Küche gesessen und festgestellt hatten, daß wir keine Freunde hatten, mit denen wir feiern konnten.«
    Danach war Van Vliet verstummt und schließlich eingeschlafen. Ich fuhr in Genf ohne Umschweife zu einem Hotel, das ich kannte. Um eine Buchhandlung war es ihm nie gegangen. Es war immer darum gegangen, heute noch nicht in seine stille Wohnung ohne Leas Töne zurückkehren zu müssen.
    Ich weckte ihn und zeigte auf das Hotel. »Ich bin zu müde, um noch weiterzufahren«, sagte ich. Er sah mich an und nickte. Er wußte, daß ich ihn durchschaute.
    »Das war meine letzte Fahrt nach Saint-Rémy«, sagte er beim Essen. Er sah hinaus auf den See.

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