Lea
nicht einmal sicher, ob sie es nicht trotzdem getan hätte, es gab diese Rötung im Gesicht, diese Energie, diese Hoffnung. Ich weiß nicht mehr, was ich sagte. Als sie mir einen Kuß auf die Wange gab, stand ich da wie aus Holz gemacht. Bei der Tür zögerte sie einen Moment, wandte den Kopf. Dann war sie draußen.
Die meiste Zeit in jener Nacht saß ich am Fenster und sah in den Schnee hinaus. Zuerst fragte ich mich, wie sie es Marie sagen würde. Und dann, ganz plötzlich, kam mir die Ahnung: Sie würde es ihr überhaupt nicht sagen. Nicht aus Kaltschnäuzigkeit. Aus Unsicherheit und Angst und schlechtem Gewissen. Und weil sie einfach nicht wußte, wie man so etwas zur Sprache brachte, und dann noch bei derjenigen Frau, die ihr die Mutter ersetzt hatte und acht Jahre lang ihr Leitstern gewesen war. Je länger ich darüber nachdachte, desto größer wurde die Gewißheit: Sie würde abreisen, ohne mit Marie gesprochen zu haben.
Ich spürte den Magen. Ich sah Lea, wie sie Marie in Rom Postkarten schrieb und sie anzurufen versuchte, um die Karten anzukündigen. Es war feige, wenn es so kam. Ich sagte mir die Entschuldigungen vor, doch das Gefühl blieb. Es dauerte Jahre, bis es verblaßte. ›Ein Holländer läuft vor nichts davon‹, pflegte mein Vater zu sagen, wenn er Feigheit sah. Es war Kitsch und Nonsense, zumal er oft genug ein Waschlappen war, und im übrigen waren wir schon seit einer Ewigkeit keine Holländer mehr. In jener Nacht dachte ich an seinen albernen Spruch, und er gefiel mir, obwohl er eigentlich alles nur noch schlimmer machte.
Es kam, wie ich gedacht hatte, ich sah es, als ich mich zu Marie an den Frühstückstisch setzte, wo kein drittes Gedeck lag. ›Sie ist erst siebzehn‹, sagte ich. Sie nickte. Aber es tat ihr weh, mein Gott, tat es ihr weh.
Als Lea ein paar Tage später ein Päckchen mit dem goldenen Ring vom Karussell erhielt – nur der Ring, kein einziges Wort –, sah ich Maries Gesicht am Frühstückstisch vor mir, ein übernächtigtes, enttäuschtes, erloschenes Gesicht.
Lea starrte den Ring an, ohne ihn zu berühren. Sie starrte und starrte, ungläubiges Entsetzen im Blick. Dann stand sie auf, der Stuhl fiel um, sie rannte in ihr Zimmer und heulte wie ein kleines Kind.
Ich spürte: Ich sollte zu ihr gehen, sie trösten. Aber es ging nicht. Ging einfach nicht. Ich war darüber so verstört, daß ich mein weinendes Kind allein in der Wohnung ließ und durch die Stadt ging, bis ins Monbijou, wo ich als Junge auf dem Bett gelegen und davon geträumt hatte, Geldfälscher zu werden. Ich will diese Verantwortung nicht. Ich weiß nicht, wie das geht: die Verantwortung für jemanden übernehmen. Warum hast du das nicht respektiert, sagte ich zu Cécile, es war doch nicht einfach so dahergeredet, das mußtest du doch spüren, warum also.
Das ganze Ausmaß von Maries Verletzung bekam ich zu sehen, als wir auf dem Parkplatz in St. Moritz zu meinem Auto gingen. Als wir an einem grünen Jaguar vorbeikamen, holte Marie ihren Schlüsselbund hervor, suchte den spitzesten heraus und ritzte mit einer schnellen Bewegung eine Schramme in den Lack des Wagens. Nach ein paar Schritten ging sie zurück, und nun zog sie den Schlüssel über die ganze Länge, vom hinteren bis zum vorderen Kotflügel. Ich traute meinen Augen nicht und sah mich um, ob es jemand gesehen hatte. Ein älteres Paar sah zu uns herüber. Marie steckte die Schlüssel weg. Ihr könnt mich ruhig verhaften, stand in ihrem Gesicht, jetzt ist sowieso alles egal.
›In so ein Ding ist sie heute morgen mit ihm eingestiegen‹, sagte sie, als ich losfuhr. ›Kein Wort. Kein einziges Wort.‹
Es wurde eine schweigsame Fahrt, auf der sie sich ab und zu stille Tränen aus den Augen rieb.
Wir klammerten uns aneinander. Ja, ich glaube, das ist das richtige Wort: Wir klammerten uns aneinander. Es geschah in einer Art verbissener Heftigkeit, die man für unbefangene Leidenschaft halten konnte, sogar wir selbst hielten sie anfänglich dafür. Bis sich die Verzweiflung, die darin lag, nicht mehr leugnen ließ. Am Abend der Heimfahrt von St. Moritz saß ich bei Marie auf dem Sofa mit den vielen Kissen aus glänzendem Chintz. Sie trug ein Batikkleid aus hellem, verwaschenem Rosa, das mit feinen asiatischen Schriftzeichen übersät war, wie mit dem Pinsel gemalt, dazu, wie am Abend unseres ersten Besuchs, Hausschuhe aus weichem Leder, die wie eine zweite Haut waren. Sie war hereingekommen, hatte den Koffer abgestellt und war, noch im Mantel,
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