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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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gegangen war: sakral .
    Er las alles, der Karton mit den Zeitungsausschnitten füllte sich. Er sah sich jedes Foto an und betrachtete es lange. Leas Verbeugungen wurden sicherer, damenhafter, routinierter, das Lächeln fester, verläßlicher, gestanzter. Seine Tochter wurde ihm immer fremder.
    »Ich war froh, wenn sie wieder einmal einen ihrer sonderbaren Sätze sagte – als Erinnerung daran, daß sie hinter der Fassade von Mademoiselle Bach immer noch meine Tochter war, das Mädchen, mit dem ich vor zehn Jahren im Bahnhof gestanden und Loyola de Colón zugehört hatte.«
    Doch manchmal schlich sich nun auch Angst ein, richtige Angst, und sie wurde häufiger, aufdringlicher. Denn es gab Tage, da Leas Sätze noch mehr verrutschten als sonst. »Ich habe dem Techniker gesagt, daß es im Saal zu dunkel ist, viel zu dunkel; es wäre ja noch schöner, wenn ich im Publikum jedes einzelne Gesicht erkennen müßte.« »Stell dir vor, der Fahrlehrer hat mich gefragt, ob es eine Geige oder Bratsche sei. Er weiß nicht einmal, daß das ein Unterschied ist. Dabei hört er den ganzen Tag Oper, vor allem den neuen Baßbariton aus Peru.« »Davíd hatte wie immer recht mit dem Plattenvertrag: Warum vergißt er jedesmal, daß ich überhaupt keinen Rauch vertrage, das interessiert doch keinen bei der Firma.« An solchen Tagen kam es dem Vater vor, als verrutsche nicht nur die Sprache seiner Tochter, sondern auch ihr Geist. Er las Bücher darüber und paßte auf, daß Lea sie nicht sah.
    Es wäre nicht nötig gewesen. Was der Vater tat, schien sie überhaupt nicht mehr zu interessieren. Darüber war er so verzweifelt, daß er in der Wohnung zu rauchen begann in der Hoffnung, sie würde wenigstens protestieren. Nichts. Er hörte wieder auf und ließ die ganze Wohnung reinigen. Auch dazu kein Wort von Lea. Er verreiste, fuhr wieder einmal zu einem Kongreß und blieb noch ein paar Tage, um Marie mit einer anderen Frau zu vergessen. »Du warst aber lange weg«, sagte Lea. Hatte sie in Neuchâtel übernachtet? Er ist nicht diese Art Mann.
    Van Vliet wurde zum Rektor von Leas Schule bestellt. In einem halben Jahr waren die Maturitätsprüfungen. Es sah nicht gut aus für Lea. Was ging, waren die Fächer, in denen es vor allem auf Intelligenz ankam. Katastrophal sah es dort aus, wo jeder büffeln mußte. Und sie fehlte viel, viel zuviel. Der Rektor war verständnisvoll, großzügig, er war ja auch stolz auf Mademoiselle Bach, die ganze Schule war stolz. Aber auch er konnte nicht alle Regeln außer Kraft setzen. Der Vater möge bitte mit ihr reden, bitte.
    Wenn es nur Marie noch gegeben hätte. Doch Marie gab es für Lea schon seit zwei Jahren nicht mehr. Sie war erstarrt, als Van Vliet in der Zeit nach St. Moritz gefragt hatte, ob sie nicht einmal vorbeigehen wolle; reden, nicht entschuldigen, nur reden.
    Von Marie zu Lévy: Es mußte in ihr eine gewaltige Verschiebung der Kräfte stattgefunden haben. Er hätte sie gerne verstanden. War er einfach nicht der Mann, so etwas zu verstehen? Hätte Cécile es verstanden, die lebenskluge Frau, die über seine Naivität oft lachte?
    Er versuchte, mit Katharina Walther darüber zu sprechen. Marie Pasteur. Ja, ja, Marie Pasteur. Er hatte ihre Worte nicht vergessen, und deshalb hatte er gezögert. Sie schlug sich sofort auf die Seite von Lévy. Ein natürlicher Ablösungsprozeß. Eine Normalisierung. Und der Mann war ein genialer Lehrer!
    Eine Normalisierung. Daran mußte Van Vliet denken, als er später dem Maghrebiner gegenübersaß und dessen Röntgenblick aushalten mußte.
    Marie gab es nicht mehr. Sollte er über seinen Schatten springen und mit Lévy reden? »Oui?« meldete sich Lévy am Telefon. Votre jeu: sublime , hörte Van Vliet die Stimme sagen. Er legte auf.
    Er redete mit Lea. Oder besser: zu ihr. Er setzte sich in ihrem Zimmer in den Sessel, was er schon lange nicht mehr getan hatte. Er berichtete vom Gespräch mit dem Rektor, von seinem Wohlwollen und seiner Sorge. Er ermahnte, drohte, bettelte. Vor allem, denke ich, bettelte er. Darum, daß sie die Maturität mache. Daß sie mit den Auftritten eine Pause mache und aufhole. Zusammen mit ihm, wenn sie wolle.
    Es nützte, jedenfalls vorübergehend. Sie war mehr zu Hause, sie aßen wieder öfter zusammen. Van Vliet schöpfte Hoffnung, auch was ihre verlorene Nähe betraf. Nur noch wenige Wochen bis zu den Prüfungen. Zwei Tage nach der letzten Prüfung war ein großer Auftritt in Genf vorgesehen, Orchestre de la Suisse romande , das

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