Lea
Morgen, an dem ich Paul das Skalpell reichte. Ein paar Tage danach hatte ich einen Traum: Pauls Augen über dem Mundschutz waren nicht entsetzt, sondern nur erstaunt, maßlos erstaunt und beglückt, daß es endlich soweit war. Was konnte ich dafür, dachte ich nachher, daß Helen, seine Frau, mir in den Garten folgte, wenn sie Gäste hatten und ich eine Weile allein sein wollte? Daß sie aus Boston stammte, reichte zur Erklärung nicht, das wußte auch Paul.
Hatte ich je Freunde gehabt, fragte ich mich, wirkliche Freunde?
Und nun? Nun lag im Nebenzimmer ein Mann, der die Tür öffnete und das Licht brennen ließ, um einschlafen zu können. Wie wäre es umgekehrt? Wie wäre es, Martijn van Vliet zu vertrauen? Er trug immer noch den Ehering, den ihm Cécile angesteckt hatte. Cécile, die doch wissen mußte, daß er die Verantwortung für ein Kind nicht wollte.
Wenn Bern und Neuchâtel unter Schnee lagen, war er manchmal ins Oberland gefahren und hatte Langlaufskier gemietet. Er hatte die Selbstvergewisserung gesucht, die nur die Stille zu geben vermag. Wer er unabhängig von Lea war und wie es weitergehen sollte, hatte er sich gefragt. Auch beruflich. Die eigentliche Regie über die Forschungsprojekte hatte längst Ruth Adamek übernommen. Er unterschrieb nur noch. Sie stand hinter ihm, als er es einmal genauer wissen wollte und zu blättern begann. »Unterschreiben!« hatte sie geschnaubt. Da zerriß er den Antrag. Sie grinste.
Danach hatte er es zum ersten Mal versucht. Tabletten. Hinlegen und einschlafen. Zugeschneit werden. Wie nie gewesen. Im letzten Moment dann der Gedanke an Lea. Daß sie ihn brauchte, trotz Lévy. Eines Tages vielleicht auch wegen Lévy.
Ich fand keinen Schlaf. Ich mußte es verhindern. Es kam mir vor, als hinge mein eigenes Leben davon ab.
Plötzlich wünschte ich, ich könnte die Zeit zurückdrehen bis vor den Morgen in Saint-Rémy mit dem Mädchen auf dem Rücksitz der knatternden Vespa. Es war schön gewesen in den ländlichen Gasthöfen mit Somerset Maugham bei schummrigem Licht.
Um vier Uhr morgens konnte ich Leslie nicht anrufen. Und was sollte ich auch sagen.
Ich fuhr in die Lobby und schlenderte durch die Hotelarkade mit den Schaufenstern. Ich kannte das Hotel, war aber noch nie hier hinten gewesen. Am Ende entdeckte ich einen Bibliotheksraum. Ich machte Licht und trat ein. Meterweise Simenon, Städteführer, Stephen King, ein Buch über Napoléon, eine Auswahl Apollinaire, Gedichte von Robert Frost. LEAVES OF GRASS , das Buch, das in Walt Whitman ein Leben lang gewuchert hatte. I cannot be awake, for nothing looks to me as it did before,/Or else I am awake for the first time, and all before has been/a mean sleep. Ein Heißhunger durchströmte mich, ein Heißhunger nach Whitman. Ich setzte mich in einen Sessel und las, bis es draußen hell wurde. Ich las mit der Zunge. Ich wollte leben, leben, leben.
19
DAVID LÉVY MACHTE LEA zu Mademoiselle Bach. MADEMOISELLE BACH . Die Zeitungen druckten die beiden Wörter immer wieder, erst im hinteren Teil und in kleinen Buchstaben, dann wurden die Buchstaben größer und die Artikel länger, es kamen Bilder dazu, und auch sie wurden immer größer, schließlich prangte ihr Gesicht über der Geige auf der ersten Seite der Boulevardzeitungen. All dies kam Van Vliet vor wie ein zeitlich gestaffelter, stockender Zoom, der in seiner Unaufhaltsamkeit etwas Unheilvolles an sich hatte. Ob ich denn davon nie etwas gesehen hätte, fragte er. »Ich lese keine Zeitungen«, sagte ich, »mich interessiert nicht, was Journalisten denken, ich will nur die Fakten, trocken wie Agenturmeldungen; was ich darüber zu denken habe, weiß ich selbst.« Er sah mich an und lächelte. Es mag sonderbar klingen, weil er mir doch bereits all diese Dinge aus seinem Leben erzählt hatte, aber da hatte ich das erste Mal das Gefühl, daß er mich mochte. Nicht nur den Zuhörer. Mich.
Die ersten Auftritte gab es wenige Wochen, nachdem Lévy ihr seine Geige geschenkt hatte. Er besaß in der Musikwelt immer noch Einfluß, wie sich zeigte. Neuchâtel, Biel, Lausanne. Erstaunen über das junge Mädchen, das die Musik von Johann Sebastian Bach mit einer Klarheit spielte, die alle in ihren Bann schlug, und das die immer voller werdenden Säle mit einem Klang füllte, wie man ihn schon lange nicht mehr gehört hatte. Die Journalisten schrieben von einer unerhörten Energie , die in ihrem Spiel läge, und einmal las Van Vliet auch das Wort, das ihm in St. Moritz durch den Kopf
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