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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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mußte einen Rest der Feuchtigkeit vom Brunnen gespürt haben und sah ihn an. »Du hast geweint«, sagte sie.
    Sie fuhren in den Rosengarten zum Essen. Er hatte gehofft, daß es ein Essen würde, bei dem sie ihre Empfindungen besprechen könnten, die unter den Tränen aufgebrochen waren. Doch als sie bestellt hatten, nahm Lea das Telefon und rief Lévy an. »Nur ganz kurz«, sagte sie entschuldigend. »Je suis désolée, je me suis trompée de jour … non, l’oral … oui, réussi … non, pas très bien … oui, à très bientôt.« Bientôt hatte nicht genügt, es hatte très bientôt sein müssen. Das kleine, häßliche Wort hatte alles zerstört. Als Van Vliet davon sprach, war es, als hörte er die verdammte Silbe in diesem Moment. Er hatte die Hälfte des Essens stehenlassen, und sie waren schweigsam nach Hause gefahren. Die harte Schale über den Gefühlen hatte sich wieder geschlossen, bei beiden.
    Noch einmal nahm er einen Anlauf, holte sie nach der letzten Prüfung ab und fuhr sie nach Genf. Auch zum Konzert fuhr er hin. Er ging durch die Stadt und sah die Plakate: LEA VAN VLIET . Er hatte solche Plakate lieben und hassen gelernt. Manchmal war er mit der Hand über das glatte, glänzende Papier gefahren. Dann wieder, wenn er sich unbeobachtet wähnte, hatte er sie in Fetzen gerissen, Vandalismus gegen den Ruhm seiner Tochter. Einmal hatte ihn ein Polizist dabei gesehen und gestellt. »Ich bin der Vater«, hatte er gesagt und ihm den Ausweis gezeigt. Der Polizist hatte ihn verwundert angesehen. »Wie ist es, eine so berühmte Tochter zu haben?« »Schwierig«, hatte Van Vliet geantwortet. Der Polizist hatte gelacht. Im Weitergehen hatte sich Van Vliet geärgert, daß die Sache auf diese Weise zu einem Scherz geworden war, und er hatte auf den Boden gespuckt. Der Polizist, der stehengeblieben war, hatte es gesehen. Einen Augenblick lang verhakten sich ihre Blicke wie diejenigen von Feinden. So jedenfalls war es Van Vliet vorgekommen.
    Er war schon lange bei keinem Konzert von Lea mehr gewesen. Die graumelierte Mähne von Lévy im Saal zu sehen, war unerträglich. Es war auch jetzt unerträglich. Doch dann gelang es ihm, sie zu vergessen. Denn seine Tochter spielte, wie er es noch nie gehört hatte. St. Moritz war nichts dagegen. Schon da hatte er gedacht: eine Kathedrale aus Tönen. Doch das war ein Kirchlein gewesen verglichen mit dem Dom, den sie mit ihren Amati-Tönen über der ganzen Stadt Genf und allem Wasser errichtete. Für den Vater gab es nur noch diesen Dom aus Klarheit und nachtschwarzem Azur, übersetzt in Klang. Und es gab die Quelle dieser monumentalen sakralen Architektur: Leas Hände, die mit der Sicherheit von Maries Händen dieses unvergleichliche Instrument zum Klingen brachten, das Nicola Amati im Jahre 1653 geschaffen hatte. Dazu ihr Gesicht über der Kinnstütze, die Augen meist geschlossen. Seit dem Abend in St. Moritz, an dem David Lévy wie aus dem Nichts an den Tisch getreten war, hatte sie nie mehr ein weißes Tuch für das Kinn benützt. Die Farbe war jetzt Mauve, wie Lea es nannte. Er hatte die Tücher untersucht und gefunden, was er suchte: LUC BLANC, NEUCHÂTEL , der Firmenname in winzigen schwarzen Buchstaben. Auch jetzt preßte Lea ihr Kinn auf ein solches Tuch. Die Muskeln des Gesichts folgten der Musik, sowohl der Linie der Melodie als auch der Kurve der technischen Schwierigkeiten. Er dachte daran, wie dieses Gesicht wenige Tage zuvor aufgelöst und naß an seiner Wange gelegen hatte. Très bientôt . Lévy saß unbeweglich auf seinem Platz in der ersten Reihe.
    Ihm galt ihr erster Blick, bevor sie sich verbeugte. Der Blick der dankbaren, stolzen und, ja, liebenden Schülerin. Der Dirigent deutete einen Handkuß an. Sie schüttelte dem Konzertmeister die Hand. Erst im Auto wußte Van Vliet, was ihn daran gestört hatte: Die Geste war vorhersehbar gewesen, schrecklich vorhersehbar. Es war ihm vorgekommen, als sei Lea von einem riesigen Räderwerk erfaßt worden, dem gigantischen Mechanismus des Konzertbetriebs, und nun führte sie all die Bewegungen aus, welche die vorgezeichneten ballistischen Kurven ihr vorschrieben. So war es auch mit ihren Verbeugungen gewesen, die sie unter Stampfen und begeistertem Pfeifen wiederholte und wiederholte. Der Vater dachte an die Verbeugungen bei ihrem ersten Auftritt in der Schule. Sie hatten, obgleich anmutig, etwas Scheues an sich gehabt, eine Scheu, die jetzt fehlte; sie war dem Glanz des Stars gewichen.
    Lévy fand schneller zu Lea

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