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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Sie lebte nur in Neuchâtel, in Bern war sie nur anwesend, stets auf dem Sprung zum Bahnhof. Plötzlich – oder jedenfalls bildete ich es mir ein – sprach sie den Namen Bümpliz so aus, daß er himmelschreiend lächerlich wirkte, nicht mehr liebevoll lächerlich, wie aus Céciles Mund, sondern lächerlich durch Verachtung, verächtlich: Wie konnte man in einem Ortsteil wohnen, der so hieß, unmöglich. Ernstzunehmende Orte hatten französische Namen, und über all diesen Namen glänzte der eine, der königliche Name: NEUCHÂTEL . Manchmal stellte ich sie mir auf dem Perron vor, auf den Zug nach Bern wartend und unglücklich ausrechnend, wie viele Stunden es dauern würde, bis sie hier wieder aus dem Zug steigen könnte. Sie schien mir dann voll des Widerwillens, der sich daran zeigte, daß sie mit dem Fuß einen unregelmäßigen, häßlichen Takt auf den Beton klopfte, den Takt der Sehnsucht und des Ärgers, des ungeduldigen Wartens und der widerwärtigen Bedeutungslosigkeit, die ein jedes Ding angenommen hatte, auf das nicht das Licht von Davíd fiel.
    Eines Tages dann, gut ein Jahr nach St. Moritz, kam ein neuer Klang aus ihrem Zimmer, als ich nach Hause kam.
    Der Körper reagierte schneller als der Verstand, und ich schloß mich auf der Toilette ein. Er hatte ihr eine andere Geige besorgt – eine andere Deutung gab es nicht. Das Instrument, das wir zusammen in St. Gallen gekauft hatten, war nicht mehr gut genug für eine Schülerin von David Lévy. Angestrengt versuchte ich auszumachen, worin sich die neuen Töne von den alten unterschieden; aber durch zwei Türen hindurch hörte man zu wenig. Ich wartete, bis sich mein Atem beruhigt hatte, wartete dann noch einmal vor Leas Tür, und schließlich klopfte ich. So hielten wir es schon lange, und es war in Ordnung. Nur war auch das Klopfen durch Lévy anders geworden: Ich mußte um Einlaß in eine fremde Welt bitten. Und jetzt, wo mich die vertraute Tür von neuen Tönen trennte, die voluminös und wuchtig durchs Holz kamen, hatte ich Herzklopfen, denn ich spürte: Wieder hatte etwas Neues begonnen, etwas, das Lea noch weiter von mir wegtreiben würde.
    Leas Hals war übersät mit roten Flecken, ihre Augen glänzten wie im Fieber. Die Geige, die sie in der Hand hielt, war aus überraschend dunklem Holz. Mehr weiß ich nicht, ich habe sie nie näher betrachtet, auch nicht heimlich; die Vorstellung, daß seine Fingerspuren darauf waren und daß sich sein Fett und sein Schweiß nun auch auf Leas Finger übertrugen, verursachte mir Übelkeit. Überhaupt seine Hände. Als ich ihn einmal in einer Gasse in Bern vorbeigehen sah, träumte ich nachher, daß er hinkte und an einem Stock ging, dessen Silbergriff matt aussah, abgegriffen und verfärbt vom sauren Schweiß einer greisenhaft runzligen Hand.
    Lea sah mich mit unstetem Blick an. ›Es ist Davíds Geige. Er hat sie mir geschenkt. Nicola Amati hat sie gebaut, in Cremona, im Jahre 1653.‹«
18
    DAS NÄCHSTE , woran ich mich erinnere, sind Van Vliets Hände auf der Bettdecke. Große, starke Hände mit feinen Härchen auf dem Handrücken und auffällig gerillten Nägeln. Die Hände, mit denen er seine Experimente machte und seine Schachfiguren zog. Die Hände, die ein Mal, ein einziges Mal, die Saiten von Leas Geige gedrückt hatten. Die Hände, die etwas angestellt hatten, das seine Karriere zerstörte, so daß er nun in zwei Zimmern lebte. Die Hände, denen er nicht mehr traute, wenn er einen Lastwagen kommen sah.
    Zwischen unseren Zimmern im Genfer Hotel gab es eine Verbindungstür, der ich keine Beachtung schenkte. Bis ich das Geräusch der Türklinke hörte. Es mußte eine Doppeltür sein, denn auf meiner Seite veränderte sich nichts. Ich wartete und hielt in Abständen das Ohr an das Holz, bis ich Van Vliets Schnarchen hörte. Als es fest und regelmäßig geworden war, öffnete ich leise meine Seite der Tür. Die seine stand weit offen. Die Kleider waren nachlässig auf die Stühle verteilt, das Hemd lag auf dem Boden. Er hatte getrunken und erzählt, erzählt und getrunken, ich war erstaunt, daß seine Konzentration bei all dem Wein immer noch hielt, und dann, ganz plötzlich, war er in sich zusammengefallen und verstummt. Ich mußte ihn nicht stützen, aber es dauerte lange, bis wir bei unseren Zimmern waren.
    Irgendwann hatte er das Foto von Lea hervorgeholt, das er am Abend vor ihrem ersten Auftritt in der Schule gemacht hatte, an dem Abend, als sie sich bei Mozarts Rondo vertat. Wenn es meine Tochter

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