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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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als der Vater. Die beiden traten auf ihn zu. »Davíd, je vous présente mon père« , sagte Lea zu dem Mann, der aus Neuchâtel eine verhaßte Burg gemacht hatte. Lévys Gesicht war gelassen, distanziert. Die beiden ungleichen Männer gaben sich die Hand. Lévys Hand war kalt, anämisch.
    »Sublime, n’est-ce pas?« sagte er.
    »Divin; céleste« , sagte Van Vliet.
    Er hatte die Wörter vor langer Zeit nachgeschlagen, um bereit zu sein, wenn er dem sublimen, vergötterten Lehrer seiner Tochter begegnen sollte. Eine welsche Schulfreundin, die er um Rat fragte, hatte gelacht. »Es trieft vor Ironie«, hatte sie gesagt, »vor allem céleste ; mein Gott: céleste in einem solchen Wortwechsel! Sublime! «
    Ab und zu hatte er von dieser Begegnung geträumt, und dann waren ihm die Wörter nicht eingefallen. Jetzt kamen sie. In Leas Gesicht mischten sich Empörung über die Ironie und Stolz auf den Vater ob seiner Schlagfertigkeit und einer Sprachkenntnis, die sie ihm nicht zugetraut hätte. »Es gibt jetzt dieses Fest«, sagte sie zögernd, »Davíd nimmt mich dann in seinem Wagen mit, er muß ohnehin nach Bern.«
    Davíd , aber immerhin vous , hatte Van Vliet im Auto gedacht. Er spürte Lévys kalte Hand, die er beim Abschied noch einmal hatte anfassen müssen. Lea hatte nicht gefragt, ob er auch zum Fest kommen wolle. Natürlich wäre er nicht hingegangen. Aber ausgeschlossen werden wollte er auch nicht, selbst von Lea nicht, besonders nicht von ihr. Er dachte an den Rosengarten und an die Bewegung, mit der sie das Telefon genommen hatte. Es war eine Bewegung gewesen wie eine Mauer, und die Mauer war mit jeder Sekunde gewachsen, in der sie voller Vorfreude darauf gewartet hatte, daß Lévy sich mit seiner melodiösen Stimme meldete. Jetzt hatte er von neuem verloren, und sie würde mitten in der Nacht neben Lévy im grünen Jaguar sitzen.
    Van Vliet sagte es nicht, doch wir wußten beide, daß er an Maries Hand gedacht hatte, die mit dem spitzen Schlüssel die ganze Länge eines grünen Jaguars aufgeritzt hatte.
    Ich sehe dich nach Ins und Neuchâtel rasen, Martijn, deine Tochter und ein Ziel vor Augen. Und ich sehe dich nachts von Genf nach Bern fahren, ohne Frau, ohne Tempo, ohne Ziel. Ein bißchen wie Tom Courtenay, als er am nächsten Tag in die Tretmühle der Schikanen zurück mußte, für Minuten ein Sieger, für Jahre ein Verlierer.
20
    ZU HAUSE HATTE VAN VLIET eine Schlaftablette genommen. Er wollte Lea nicht heimkommen hören. Am nächsten Morgen deckte sie den Tisch für ein gemeinsames Frühstück. Es war das erste Mal, daß er ein Friedensangebot seiner Tochter ablehnte. Im Stehen trank er eine Tasse Kaffee.
    »Ich verreise für ein paar Tage«, sagte er.
    Lea blickte ängstlich. Als hätte es ihre Gleichgültigkeit der vergangenen Monate nicht gegeben.
    »Wie lange?«
    »Keine Ahnung.«
    »Wohin?«
    »Keine Ahnung.«
    Ihr Blick flatterte. »Allein?«
    Van Vliet verweigerte die Antwort. Auch das ein erstes Mal. Ihr Blick hatte gesagt: Marie . Sie mußte es gespürt haben. Gesagt hatte sie nie etwas. Aber gespürt haben mußte sie es. Marie war ein Tabu geworden, ein Kristallisationspunkt von Verletztheit, Schuld und Peinlichkeit. Er hätte nie gedacht, daß es zwischen ihm und seiner Tochter ein Tabu geben könnte. Daß sie sich seinerzeit im Bahnhof, nach Loyolas Spiel, seiner beschützenden Bewegung widersetzt hatte – das war das Erwachen eines eigenen Willens gewesen, es hatte weh getan, aber er hatte es verstehen, annehmen und schließlich fördern gelernt. So wie die anderen Spielarten von Selbständigkeit, die sie seitdem entwickelt hatte. Doch diese verbotene Zone um Marie herum, diese Eiszeit des Verschweigens und Verleugnens: Es zerriß ihn, daß es zwischen ihnen soweit gekommen war.
    »Also, ich gehe dann«, sagte er zum Abschied. Er war sicher, ganz sicher, daß sie wußte: Er zitierte ihre rituellen Worte, wenn sie nach Neuchâtel aufbrach. Sie sah verloren aus, wie sie dort im Flur stand: ein Mädchen, das demnächst sein Maturitätszeugnis im Briefkasten finden würde; ein Star, dessen Name an allen Säulen und in allen Zeitungen stand; eine Violinschülerin, die ihren Lehrer liebte, auch wenn sie nie über Nacht bleiben durfte. Van Vliet erstarrte, als er ihre Verlorenheit sah. Um ein Haar hätte er die Tür wieder geschlossen und sich an den Frühstückstisch gesetzt. Doch die Sache mit dem Fest am Abend zuvor war die eine Sache zuviel gewesen. Er ging.
    Dies alles hatte er mir beim

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