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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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E-Dur-Konzert von Bach. Statt das Zeugnis entgegenzunehmen, würde sie im Zug nach Genf sitzen, um rechtzeitig zu den Proben dort zu sein.
    Mitten im Abfragen von Geschichtsdaten und chemischen Verbindungen bekam sie plötzlich einen leeren Blick und sagte nichts mehr. Van Vliet hatte Angst um ihr Gehirn. Aber es waren keine Aussetzer, sie dachte nur plötzlich an Genf und den berühmten Dirigenten, den sie nicht enttäuschen wollte. Er sah die Angst in den leeren Augen, und wieder einmal verfluchte er ihren Ruhm, und er verfluchte Joe, den Musiklehrer, der sie damals für St. Moritz angemeldet hatte.
    Und dann kam der Tag, an dem Van Vliet zu Jean-Louis Trintignant wurde, den er, neben Cécile sitzend, eine ganze Nacht lang hinter dem Steuer seines verdreckten Rennwagens gesehen hatte, wie er von der Côte d’Azur nach Paris raste. Aber Trintignant, stelle ich mir vor, hatte das Gesicht von Tom Courtenay. Er rauchte, was das Zeug hielt, der Rauch trübte ihm die Sicht, die Augen brannten, und er hatte, denke ich, rasende Kopfschmerzen, während er von Bern nach Ins und weiter nach Neuchâtel jagte, geschnittene Kurven, quietschende Reifen, Lichthupe und Fluchen, dabei immer diese Uhrzeit vor Augen: 12.00, Leas Prüfung in Biologie, er mußte sie abfangen und zurückbringen, mit Glück war es gerade noch zu schaffen. Der Prüfungsplan hatte auf dem Küchentisch gelegen, er hatte gestutzt, dann die siedend heiße Gewißheit, daß sich Lea im Tag vertan hatte und nach Neuchâtel gefahren war, denn die Geige war nicht da. Am Bahnhof von Ins hatte er den Zug, in dem sie sitzen mußte, knapp verpaßt, also weiter nach Neuchâtel, einmal nahm er die falsche Abzweigung und mußte wenden, am Bahnhof von Neuchâtel kein Parkplatz, fluchende Taxifahrer, als er sich bei ihnen einreihte, aber nicht lange, denn der Zug war schon seit ein paar Minuten hier, LÉVY DAVID , hektisches Blättern im Telefonbuch, er wollte von den Taxifahrern den Weg wissen, hämisches Grinsen und Kopfschütteln, er überfuhr eine rote Ampel, nach einer Weile des ziellosen Kurvens ein Polizist, der den Weg wußte. Bald danach sah er sie, den Geigenkasten über die Schulter gehängt.
    Sie war verwirrt, bockig, glaubte nicht, wollte nicht. Wenigstens kurz Bescheid sagen. Beim übernächsten Haus klingelte sie, Lévy im Morgenmantel, darunter vollständig angezogen, trotzdem: Morgenmantel, je me suis trompée, je suis désolée , halb hörte er es, halb las er es an den Lippen ab, ihr entschuldigender Blick, servil, wie er fand, ihre Handbewegung in seine Richtung, Lévys Blick ohne Zeichen des Erkennens und ohne Gruß. Der Geigenkasten verfing sich in der Autotür, ein vorwurfsvoller Blick, als sei er an allem schuld. Gregor Mendel, Charles Darwin, DNS, Nukleasen, Nukleole, Nukleotide, sie mußte sich in den Kurven festhalten, die Uhr am Armaturenbrett tickte die Minuten weg, und dann, ganz plötzlich, brach sie zusammen und weinte, die Schultern zuckten, sie beugte sich hinunter, bis der Kopf zwischen den Knien hing.
    Er hielt bei der Schule um die Ecke und nahm sie in die Arme. Kostbare Minuten lang hielt er sein Kind, das in harten, unregelmäßigen Stößen seine Angst hinausschluchzte, die Angst vor der Prüfung, vor Genf, vor den feuchten Händen, vor Lévys Urteil und vor der Einsamkeit im Hotelzimmer. Van Vliet wischte sich die Augen, als er davon erzählte.
    Langsam war sie ruhiger geworden. Er hatte ihr die Tränen abgewischt, das Haar glatt gestrichen und sie auf die Stirn geküßt. »Du bist doch Lea van Vliet«, hatte er gesagt. Sie hatte gelächelt wie eine Schiffbrüchige. An der Ecke hatte sie gewinkt.
    Ein paar Straßen weiter, auf einem stillen Parkplatz, war Van Vliet dann selbst zusammengebrochen. Er schloß das Fenster, damit niemand hörte, wie er schluchzte. Mit einem lauten, animalischen Stöhnen war alles aus ihm herausgebrochen: die Angst um Lea, das Heimweh nach der früheren Zeit, seine eigene Einsamkeit, die Eifersucht und der Haß auf den Mann im Morgenmantel, der sie mit einer Geige von Nicola Amati an sich gebunden hatte. Er öffnete den Geigenkasten, und einen verrückten, aberwitzigen Augenblick lang erwog er, das Instrument vor die Räder zu legen und loszurollen. Um danach ins Oberland zu fahren und sich unter den Schnee zu legen.
    Danach blieb keine Zeit mehr, nach Hause zu fahren. Er wusch sich an einem Brunnen das Gesicht und holte Lea ab. Sie hatte bestanden, wenn auch nicht mit Glanz. Sie fiel ihm um den Hals,

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