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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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gewesen wäre – ich hätte das Bild auch in der Brieftasche gelassen. Ein schlankes Mädchen in einem schlichten schwarzen Kleid, mit langem, dunklem Haar, das in der grobkörnigen Auflösung des Fotos aussah, als sei es mit Goldstaub durchsetzt. Auf den vollen, ebenmäßigen Lippen etwas Rouge, das sie in die Nähe einer Kindfrau rückte. Ein Blick aus grauen, vielleicht auch grünlichen Augen, spöttisch, kokett und erstaunlich selbstsicher für ein elfjähriges Mädchen. Eine Lady, die darauf wartete, daß die Scheinwerfer angingen .
    Schon in dieses Mädchen konnte man sich verlieben. Doch wieviel heftiger wurden die Gefühle, wenn man Lea mit achtzehn vor sich sah! Van Vliet hatte gezögert, mir dieses Foto zu zeigen, er hatte die Brieftasche erst zurückgesteckt und dann wieder hervorgeholt. »Das war kurz bevor er ihr die Geige schenkte, die verdammte Amati.«
    Sie stand in einem geräumigen Flur, der auf eine großzügige, elegant eingerichtete Wohnung schließen ließ, und lehnte gegen eine Kommode mit Spiegel, so daß man über ihre Schulter hinweg auch den Hinterkopf mit einem Chignon über dem langen, schlanken Hals sah. Dieser Haarknoten – ich weiß nicht, wie ich es erklären soll: Er machte sie nicht alt oder ältlich, er hatte die gegenteilige Wirkung: daß sie wie ein verletzliches Mädchen aussah, ein Mädchen voller Ordnung und Disziplin, das es allen recht machen wollte. Kein Blaustrumpf, keine blasse Streberin, ganz und gar nicht. Vielmehr stand da eine elegante junge Frau in einem perfekt geschnittenen roten Kleid, und der schmale, glänzende Ledergürtel mit der mattgoldenen Schnalle war das Tüpfelchen auf dem i . Die ebenmäßigen, vollen Lippen gehörten jetzt keiner Kindfrau mehr, sondern einer richtigen Frau, einer Gräfin, die nichts von ihrer Ausstrahlung zu wissen schien. In ihrem Blick, der eine Spur pathetisch war, mischten sich zwei Dinge, von denen ich niemals gedacht hätte, daß sie in ein und demselben Blick zusammenfließen könnten: kindliche Verletzlichkeit, die einen rührte, und schneidender Anspruch, der einen frieren ließ. Van Vliet hatte recht gehabt: Es war nicht Arroganz oder Überheblichkeit, es war Anspruch, und er galt ihr selbst nicht weniger als den anderen. Ja, das war das Mädchen, das die Geige ins Publikum schleudern wollte, wenn es sich vertan hatte. Und ja, das war die Frau, die fähig war, mitten im Essen aufzustehen und Marie, ihre Liebe aus Kinderzeiten, einfach sitzen zu lassen, wenn jemand wie David Lévy auf der Bildfläche erschien und ihr in aristokratischem Französisch eine glänzende Zukunft versprach.
    Van Vliet war unruhig geworden, als ich das Foto dicht vor die Augen hielt, um jede Einzelheit an diesem Blick erkennen zu können. Er sah mich an, er hatte gewollt und doch auch nicht gewollt, daß ich mir ein Bild machte, und nun, da es ihm zu lange dauerte und er es zu bereuen begann, erschien ein gefährliches Funkeln in den Augen. Er war immer noch bei ihr, er war immer noch in ihrer gemeinsamen Wohnung, seine Eifersucht konnte jederzeit hochgehen wie eine Stichflamme, und so würde es bleiben.
    Ich reichte ihm das Foto. Er sah mich herausfordernd an. Tom Courtenay. Ich nickte nur. Jedes Wort konnte das falsche sein.
    Nun schloß ich behutsam meine Seite der Tür. Er sollte sich, wenn er aufwachte, nicht ertappt fühlen. Er hatte im Bad das Licht brennen lassen, es fiel durch den Türspalt auf einen Spiegel, brach sich und tauchte einen Teil des Zimmers in eine diffuse Helligkeit. Ich dachte an etwas, woran ich viele Jahrzehnte nicht mehr gedacht hatte: die Veilleuse , ein Nachtlicht für Kinder, die sich im Dunkeln fürchten. Es war eine Glühbirne aus milchigem Glas, von der Mutter nachts in die Fassung der Deckenlampe geschraubt. Ich sah ihre Hand vor mir, wie sie schraubte. Vertrauen – dafür hatte die Bewegung gestanden. Vertrauen darauf, daß diese Hand mir die Angst immer würde nehmen können, es mochte geschehen, was wolle.
    Ich habe sie mit einer Axt zerschlagen, die Veilleuse. Ich wühlte im Keller in einer Gerümpelkiste, bis ich sie fand. Nahm sie, legte sie auf den Holzblock und schlug zu, ein dumpfer Schlag, ein Knirschen und Klirren, tausend Scherben. Eine Hinrichtung. Nein, nicht der Mutter, sondern des eigenen blinden Vertrauens; nein, nicht nur in die Mutter, nicht einmal besonders in sie, sondern in alle und alles. Besser weiß ich es nicht zu erklären.
    Von da an vertraute ich nur noch mir selbst. Bis an jenem

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