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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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hatte, das Marie und Lea in jenem Raum aufführten, und wie er sich ausgeschlossen gefühlt und die beiden um die Intimität beneidet hatte, die aus den Gesten sprach. Jetzt stand auch Lea draußen, ausgeschlossen durch ein erlöschendes Licht, ein zurückgestoßenes kleines Mädchen, das taumelte und jederzeit fallen konnte, im Inneren wie im Äußeren.
    Sie schlug die falsche Richtung ein. Das war kein möglicher Weg nach Hause und auch kein Weg zu einem anderen verständlichen Ziel. Wieder krampfte sich Van Vliets Magen zusammen. Das Bild seiner wirklichen Tochter wurde von einem Vorstellungsbild überlagert, in dem sie diese Straße immer weiter ging, immer weiter, die Straße war eine endlose Gerade, Lea ging und ging, der Hund war verschwunden, jetzt blich die Gestalt seiner Tochter langsam aus, wurde heller und heller, durchsichtig, ätherisch wie die Gestalt einer Fee, und dann war sie verschwunden.
    Als er das Bild, das mächtiger und mächtiger geworden war, endlich abzuschütteln vermochte, war es, als wachte er nach einer kurzen, aber heftigen Krankheit auf.
    »Später, als ich wach lag«, sagte er, »dachte ich darüber nach, wie sich nun auch mein eigener Geist zu verformen begann. Es war sehr sonderbar: Ich hätte bei dem Gedanken Panik erwartet – die Angst, verrückt zu werden. Statt dessen ging es mir gut dabei. Es war nicht gerade ein Glücksgefühl, aber eine Art Zufriedenheit, und ich denke, es war das Gefühl, daß ich dabei war, Lea ähnlich zu werden – so absonderlich das klingen mag. Oder vielleicht sollte ich nicht sagen: ähnlich werden, sondern: entsprechen . Ja, das war es. Es war das Gefühl, mit meiner Vorstellung von Leas endlosem, ausbleichendem Weg auf die Wirklichkeitsferne zu antworten, die sich in meiner Tochter unaufhaltsam ausbreitete. Es war gefährlich, das spürte ich wohl. Aber das gibt es ja: daß man willig, ergeben und irgendwie zufrieden einem Abgrund entgegensieht.«
    Und dann erzählte er von Thelma and Louise , dem Film, in dem zwei Frauen, von der Polizei gejagt, auf den Rand des Canyons zurasen. Sie haben sich mit wenigen Worten verständigt, Blicke der Komplizenschaft, sie fassen sich an der Hand und fahren im inneren Gleichklang in die tödliche Freiheit.
    »Das Bild dieser beiden Hände«, sagte er, »ist eines der schönsten Filmbilder, die ich kenne. Es sieht so leicht und anmutig aus, wie die beiden Hände sich berühren, so überhaupt nicht nach Verzweiflung, eher nach Glück, einem Glück, wie man es nur gewinnen kann, wenn man alles einsetzt, auch das Leben. Ein unerhörtes, tollkühnes Gambit, mit dem sich die beiden Frauen über alle Macht der Welt erheben, wenngleich nur für die letzten Sekunden ihres Lebens.«
    Ja, Martijn, das ist ein Bild, das dich ganz in der Tiefe erreichen mußte. Ich sehe deine Hände vor mir, wie du sie vom Steuer genommen hast, als die Lastwagen kamen, groß, laut und zermalmend.
    Damals hielt Van Vliet ein Taxi an, ließ es um den Block fahren und neben Lea halten. »Ach, Papa«, sagte sie nur und stieg mit Nikki hinten ein. Sie schöpfte keinen Verdacht, hielt es anscheinend für eine zufällige Begegnung. Schweigend fuhren sie nach Hause. Er kochte, aber sie saß mit leerem Blick vor dem Essen und ließ es am Ende stehen.
    Als er gegen Morgen aufwachte, hörte er im Flur ein Geräusch. In einer Ecke saß Lea neben Nikki auf dem Boden, die Arme um den Hund geschlungen, weinend. Er trug sie ins Bett und wartete im Sessel, bis sie eingeschlafen war. Mit ihr zu reden war nicht möglich gewesen. »Sie war nicht mehr erreichbar, für niemanden«, sagte er.
22
    ES WAR IN JENEN MORGENSTUNDEN , daß er den fatalen Gedanken faßte: Er würde für Lea eine Geige von Guarneri del Gesù beschaffen – koste es, was es wolle.
    Das Instrument – muß er gedacht haben – würde seine Tochter wieder aufrichten und ihr die stolze Form und Fassung zurückgeben, die ihr wahres Wesen ausmachten. Es würde ihren dahintreibenden, unvertäuten Willen neu verankern. Sie würde wieder oben stehen und ihre unvergleichlichen Kathedralen aus sakralen Tönen bauen. LEA VAN VLIE t – er muß die stolzen, leuchtenden Buchstaben vor sich gesehen haben. Im Publikum würden nicht David Lévy und auch nicht Marie Pasteur sitzen, sondern er, der Vater. Noch stand ihm kein ausdrücklicher Plan vor Augen, wie er an das Geld kommen könnte, um eine der teuersten Geigen der Welt zu kaufen. Aber er würde es schaffen. Mit einem tollkühnen Schachzug würde er

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