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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ihn. Der Vater wurde ruhiger, die Tablettengefahr war vorbei, den Hund würde sie nicht im Stich lassen. Doch langsam und unmerklich wuchs eine neue Gefahr heran: Aus der Beschützerin wurde ein Kind, das bei dem Hund Schutz suchte wie bei einem Menschen. Statt sich zu ihm hinunterzubeugen oder ihn aus der Hocke heraus zu streicheln, setzte sich Lea neben ihn auf den Boden, unbekümmert um allen Schmutz, legte ihren Kopf an den seinen und schlang die Arme um ihn. Van Vliet dachte sich nicht sofort etwas dabei, die Erleichterung, sie geborgen zu wissen, überwog. Obgleich es manchmal einer traurigen Komik nicht entbehrte, wenn der Hund sich ihr entwand, weil er keine Luft mehr bekam oder sich einfach bedrängt fühlte.
    »Nikki«, sagte sie dann enttäuscht und auch ein bißchen gereizt, »warum bleibst du nicht bei mir.«
    Es war der Name, an den der Hund von früher her gewohnt war. In der Gegenwart des Vaters nannte sie ihn auch nie anders. Doch als Van Vliet eines Tages an ihrer Tür vorbeiging, hörte er durch den offenen Spalt, wie sie ihn Nicola oder Niccolò nannte, die beiden Namen flossen ineinander. Es war wie ein Stromstoß. In seinem Büro versuchte er sich zu beruhigen, klar zu denken. Warum es nicht einfach als ein harmloses, lustiges Wortspiel sehen? Doch warum dann im Verborgenen? War es überhaupt im Verborgenen? Und selbst wenn es ein bißchen mehr war und sie den Hund irgendwie, aus einem vagen und konfusen Gefühl heraus, mit Amati und Paganini in Verbindung brachte: War das wirklich Grund zur Sorge? Sie war ein bißchen verschroben und durcheinander, aber nicht verrückt.
    Van Vliet konzentrierte sich auf die Arbeit. Bis plötzlich die Angst in ihm hochschoß wie eine Fontäne: Was, wenn sie es doch war? Wenn sich hinter dem harmlosen Namensspiel ein Schub von seelischer Verwirrung ankündigte, der in ihrer Innenwelt alles verschob wie ein tektonisches Beben?
    In einem dieser Momente, in dem ihn die Panik überspülte, muß Ruth Adamek hereingekommen sein. Sie muß den weißen Labormantel getragen und einen Schlüsselbund in der Hand gehalten haben. Da muß etwas mit Van Vliet geschehen sein, etwas, das ich mehr aus seinem fiebrigen Blick und seiner rauhen Stimme herauslas als aus seinen Worten, die karg und stockend kamen: Seine Assistentin, die er hier noch vor kurzem – wie er sich ausdrückte – vernichtet hatte, erschien ihm wie die gebieterische, erbarmungslose Wärterin auf einer geschlossenen psychiatrischen Station. Und wenn ich sage: erschien , so meine ich, daß sie wie eine Erscheinung war, eine teuflische Epiphanie, die vorhatte, ihn und seine Tochter hinter die hohen, düsteren Mauern einer Anstalt zu holen.
    Van Vliet warf sie hinaus und wurde fast tätlich. Der Knall der Bürotür war im ganzen Haus zu hören. Wenn es vielleicht irgendwo in ihm, in einer verborgenen, verleugneten Kammer, die Bereitschaft gegeben hatte, einen Psychiater zu Rate zu ziehen: Von nun an war diese Kammer für immer versiegelt.
    »Eine Irrenanstalt. Eine Irrenanstalt. Ich bringe doch Lea nicht in eine Irrenanstalt .«
    Wir waren eine Weile gegangen und standen nun wieder am Ufer des Genfer Sees. Das brutale Wort war wie ein Messer, mit dem er sich schnitt, einmal, zweimal, dreimal. Ich dachte an seine Worte, als er von Amsterdam, den zu niedrigen Brücken über den Grachten und der Maskerade mit den alten Kleidern erzählt hatte, die er anzog, um sich als Martijn Gerrit van Vliet, der grobschlächtige Holländer, gegen den glitzernden Davíd Lévy zu wehren: weil ein seelischer Schmerz, an dem man mitwirkt, leichter zu ertragen ist als einer, der einem nur zustößt .
    »Ich bringe doch Lea nicht in eine Irrenanstalt.« Er sprach in der Gegenwartsform. Eine schreckliche Gegenwartsform. Nicht nur, weil sie Leas Tod verleugnete. Sondern auch, weil darin eine hilflose, eisige Wut vibrierte, eine Wut auf den Maghrebiner, der ihm den Zugang zu seiner Tochter verwehrt hatte und dessen Existenz nur dadurch zu ertragen war, daß man sie in der Wahl des Tempus einfach durchstrich. Nein, an weiße Mäntel, Schlüssel und verriegelte Anstaltstüren war nicht zu denken.
    Auch dann nicht, als Lea nach dem Besuch bei Marie vollends zusammenbrach. Van Vliet hatte sie von weitem gesehen, ihre alte Geige über die Schulter gehängt, Nikki an der Leine. Der Magen krampfte sich zusammen. Marie. Zur Gewißheit wurde es, als sie in die Straßenbahn einstieg. Van Vliet rannte zum Taxistand und folgte ihr. Wie man einer

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