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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Schlafwandlerin folgt, um sie zu beschützen und vor dem Absturz zu bewahren.
    Er versteckte sich in einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite, als Lea mit zögernden Schritten und sonderbar gesenktem Kopf auf Maries Haus zuging. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und er sah sofort: kein Licht hinter Maries Fenstern. Lea zögerte, schien für einen Moment umdrehen zu wollen und klingelte dann doch. Nichts. Sie streichelte den Hund, wartete, klingelte noch einmal. Van Vliet atmete auf: Es war noch einmal gut gegangen. Doch obwohl der Hund zog, ging Lea nicht weg, sondern nahm die Geige von der Schulter und setzte sich auf die Stufen vor der Tür. Nun warteten Vater und Tochter in der hereinbrechenden Dunkelheit, sprachlos und getrennt durch den Abendverkehr, in dem Marie irgendwann auftauchen mußte.
    Sollte er zu ihr gehen und sie nach Hause bringen? Sie daran erinnern, daß Marie Angst vor Hunden hatte? Hätte sie nicht die Geige mitgebracht – vielleicht hätte er es getan. Doch die Geige bedeutete: Sie wollte nicht einfach mit Marie reden, sie wollte zum Unterricht, und das hieß: Sie wollte die Zeit zurückdrehen, wollte, daß alles sei wie vorher. Es gab keine Abreise in St. Moritz, keinen Bruch, keinen David Lévy, kein Neuchâtel, sie wollte zurück zu Maries Batikkleidern und zu dem vielen Chintz, in dem sie einmal hatte baden wollen. Van Vliet spürte: Sie hing dort drüben, auf den Stufen, über einem Abgrund. Sie torkelte in der Zeit, oder besser: Sie kannte keine Zeit mehr, es gab in ihr keine Zeit mehr – es gab nur diesen einen Wunsch: daß es mit Marie wieder gut sein möge, mit der Frau, der sie den goldenen Ring geschenkt und aus Rom die vielen Karten geschickt hatte, mit der Frau, die ihr vor jedem Auftritt das Kreuz auf die Stirn gezeichnet hatte.
    Und der Vater wollte nicht derjenige sein, der diese Hoffnung und diese Sehnsucht zertrampelte, und den sie danach hassen würde.
    Es war schon nach zehn und finstere Nacht, als Marie vor dem Haus parkte. Van Vliet starrte hinüber, bis die Augen tränten. Der Hund sprang auf und zerrte an der Leine. Marie schreckte zurück, stutzte, erstarrte. Lea stand jetzt und sah ihr entgegen. Van Vliet war froh, daß es zu dunkel war, um den Blick zu erkennen. Doch vielleicht war es noch schlimmer, sich diesen Blick vorstellen zu müssen: einen flehentlichen, bittenden Blick seiner Tochter, für die Marie vielleicht die letzte Rettung war.
    Van Vliet war versucht hinüberzugehen, hinüberzurennen, seiner Tochter zu Hilfe. Doch das hätte alles noch chaotischer gemacht, und so starrte er weiter ins Dunkel und versuchte zu hören, was Marie sagte. Etwas mußte sie ja sagen, sie konnte nach drei Jahren des vollständigen Schweigens nicht einfach wortlos an Lea vorbei ins Haus gehen und die Tür hinter sich zumachen. Oder doch?
    Marie war bei der Tür, es sah aus, als steckte sie den Schlüssel ins Schloß. Lea war zur Seite getreten, sie hatte sich an einen Busch pressen und Nikki am Halsband festhalten müssen, um Marie vorbeizulassen. Es hatte dem Vater einen Stich gegeben, als er sah, wie sie zurückwich, einer Sklavin gleich, die kein Recht hatte, dort zu sein. Jetzt hörte er sie etwas zu Marie sagen. In der halb geöffneten Tür, hinter der das Licht angegangen war, wandte sich Marie um und sah Lea an. Ein Auto fuhr vorbei. »… spät … leid …« war alles, was er verstand. Lea ließ den Hund los, stolperte über die Leine, breitete die Arme aus, es muß den Vater zerrissen haben, als er die flehentliche, sehnsuchtsvolle Bewegung seiner Tochter sah, die weder ein noch aus wußte und den aberwitzigen Versuch unternahm, aus der Zeit und allem, was sie mit den Menschen macht, einfach auszutreten und dort weiterzuleben, wo es am wenigsten weh tat.
    Marie, ein Schattenriß vor dem Lichtschein, der aus der Tür drang, schien sich aufzurichten und ganz groß zu werden, Van Vliet hatte diese Bewegung des Aufrichtens kennen und fürchten gelernt. »Nein«, sagte sie, und noch einmal: »nein«. Dann wandte sie sich um, trat durch die Tür und ließ sie hinter sich zufallen.
    Eine ganze Weile blieb Lea einfach stehen, den Blick auf die Tür gerichtet, hinter der das Licht erlosch. Daß es erlosch – es kam dem Vater vor, als würden damit jede Hoffnung und jede Zukunft für seine Tochter vernichtet. Jetzt ging das Licht im Musikzimmer an, Maries Silhouette wurde sichtbar. Van Vliet dachte daran, wie er vor langer, sehr langer Zeit dem Schattenspiel zugesehen

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