Lea
seine Tochter vor dem Abgleiten ins Dunkel bewahren und sie in die Welt der Gesunden zurückholen.
Man kann sich manches zusammenreimen, sich manche Erklärung vorsagen: das Buch über die Cremoneser Geigenbauer, das er und Lea am Küchentisch zusammen gelesen hatten; Guarneri als Ersatz für Amati; Lévy übertrumpfen; der Ehrgeiz, sie wieder auf der Bühne zu sehen; der Wunsch, ihre Augen wieder leuchten zu sehen; der unaufhaltsame, ja ruchlose Wille, alle Konkurrenten auszuschalten und die Liebe, die ganze Liebe der Tochter zurückzugewinnen und fortan ganz für sich allein zu haben.
All das geht auch mir durch den Sinn. Und trotzdem: Um das, was Van Vliet in der nächsten Zeit tat, verstehen, wirklich verstehen zu können, muß man ihn gesehen, gehört und – obwohl das absonderlich klingt – gerochen haben. Man könnte auch sagen: Man muß ihn gespürt haben. Man muß ihn gesehen haben, den großen, schweren Mann, wie er trotzig den Flachmann hielt, ein Hasardeur im Äußeren und noch viel mehr im Inneren. Man muß das Vibrieren in seiner Stimme gehört haben, wenn er den geliebten, geheiligten Namen lea aussprach, und das ganz andere Vibrieren, wenn er von Marie und Lévy sprach. Man muß seine großen Hände auf der Bettdecke gesehen und den vom Alkohol sauren Atem gerochen haben, der das nächtliche Zimmer füllte, in das der schützende Lichtschein aus dem Bad fiel. Was, verdammtnochmal, wissen wir schon – auch den Klang dieser Worte, die in meiner Erinnerung öfter vorkommen als in der Wirklichkeit, muß man gehört haben. All das muß man erlebt haben, um angesichts von dem, was nun geschah, den Eindruck, den zwingenden Eindruck zu haben: Ja, genau, das und nichts anderes war es, was er nun tun mußte.
Ich schließe die Augen, lasse ihn vor mir erscheinen und denke: Ja, Martijn, so mußtest du fühlen und handeln, genau so. Denn so ist der Rhythmus deiner Seele. Es gab viele andere Geigen, auch sie edle Instrumente, die unter Leas Händen gut geklungen hätten, und sie hätten dich nicht zu diesem tollkühnen, aberwitzigen Poker verleiten müssen. Aber nein, es mußte eine GUARNERI DEL GESÙ sein, weil das der Name war, der Lea am Küchentisch gefesselt und ihre Aufmerksamkeit von Amati und Lévy weggelenkt hatte. Es mußte um jeden Preis eine Geige wie diejenige Paganinis sein, die im Rathaus von Genua ausgestellt ist. Und es erstaunt mich nicht, daß du dir damals, in der Morgendämmerung neben Leas Bett, als erstes vorgestellt hast, wie du diese Geige aus der Vitrine stehlen würdest. Eine Guarneri del Gesù. Ich war noch keine drei Tage mit dir zusammen, und es wunderte mich kein bißchen, daß nichts anderes in Frage gekommen war.
23
IM BLEICHEN MORGENLICHT setzte sich Van Vliet an den Computer. Die ersten Schritte waren kinderleicht. Ein paar Klicks, und die Suchmaschine führte ihn zu den Seiten mit den gewünschten Informationen. Es gab 164 registrierte Geigen von Guarneri del Gesù. Zum Verkauf stand nur eine einzige, der Händler saß in Chicago. Um den Preis zu erfahren, mußte er Mitglied bei der Internetfirma werden, bei der alle Informationen über alte Musikinstrumente zusammenliefen. Er zögerte. Wenn er die Nummer seiner Kreditkarte eingab, bedeutete das ein paar Dollar, sonst nichts. Trotzdem hatte er, als er es schließlich tat, das Gefühl, Dinge in Gang zu setzen, die er nicht mehr in der Hand haben würde.
Die Geige kostete 1,8 Millionen Dollar. Van Vliet schickte eine E-Mail an den Händler und fragte, wie es vor sich ginge, wenn er das Instrument kaufen möchte. Doch in Chicago war es jetzt mitten in der Nacht, eine Antwort war nicht vor dem späten Nachmittag zu erwarten.
Als Lea gegen Mittag aufwachte, war es, als sei nichts gewesen. Sie schien sich weder an den Besuch bei Marie noch an die nächtliche Szene mit dem Hund zu erinnern. Van Vliet erschrak. So deutlich war es noch nie gewesen, daß Leas Geist dabei war, in Fragmente zu zerfallen, in Sequenzen, zwischen denen es keine Verbindung gab. Gleichzeitig war er auch erleichtert und freute sich, als er hörte, wie sie sich am Telefon mit Caroline verabredete.
Im Büro ging er die Unterlagen über die eingeworbenen Millionen durch. Er erschrak, als ihm klar wurde: Er hatte, verborgen vor sich selbst, von Anfang an daran gedacht, die Geige aus den Forschungsgeldern zu bezahlen. Er betrachtete die Summen auf dem Bildschirm: Er würde mehr als die Hälfte der ersten Tranche für die Geige abzweigen müssen. Das hieß,
Weitere Kostenlose Bücher