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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Dummheiten machte. Die Kopfschmerzen bei der Arbeit wurden heftiger.
    An einem frühen Morgen wartete er vor Krompholz, um Katharina Walther zu sprechen, bevor die ersten Kunden kamen. Es war viel Zeit vergangen, er hatte es ihr lange übelgenommen, daß sie über Leas Wechsel von Marie zu Lévy so gesprochen hatte, als ginge da etwas Krankhaftes zu Ende. Sie hatte den Weg von Mademoiselle Bach in der Presse verfolgt und war auch in einem ihrer Konzerte gewesen. Das Konzert in Genf hatte sie im Fernsehen gehört. Sie fiel aus allen Wolken, als Van Vliet ihr von Leas Zusammenbruch erzählte.
    »Sie ist zwanzig«, sagte sie nach einer Weile, »sie wird darüber hinwegkommen. Und Konzerte: Dann gibt es eben für eine Weile keine. Die Ruhe wird ihr guttun. Andere Konzertagenten werden sich melden.«
    Van Vliet war enttäuscht. Was hatte er erwartet? Was konnte er erwarten, wenn er das Wichtigste verschwieg?
    Das Wichtigste war, daß Leas Gedanken verrutschten. Nicht nur ihre Gefühle waren in Aufruhr. Es war, als käme aus der Tiefe der verworrenen Gefühle ein Sog, der auch das Denken ins Dunkel hinabzog.
    Es gab Tage, da schienen die Dinge wieder in Ordnung zu sein. Doch der Preis war die Verleugnung der Zeit. Dann redete Lea über Neuchâtel und Lévy, als sei alles wie früher. Ohne zu merken, daß das nicht zu der Tatsache paßte, daß sie nicht mehr hinfuhr und keine Amati mehr da war. Sie kam mit neuen Kleidern nach Hause, die sie für fiktive Konzerte gekauft hatte. Es waren Kleider mit Glitzerkram, die sie nuttig aussehen ließen und in kein Konzerthaus paßten. Dann wieder lief sie in der Wohnung in einem Hemdchen herum, das den Vater erröten ließ, dazu Lippenstiftpfusch, der den Mund aufblähte. Sie las die Zeitung von vorgestern und merkte es nicht. Selten wußte sie, was für ein Wochentag war. Sie verwechselte Idomeneo mit Fidelio , Tschetschenien mit Tschechien. Sie begann zu rauchen, auch in der Wohnung, dabei vertrug sie keinen Rauch und hustete ständig. »Heute habe ich in der Stadt Caroline gesehen, man kann ja nicht alles vergessen«, sagte sie. »Joe ist pensioniert worden, jetzt ist er endlich am Ziel, er hat immer so gern unterrichtet.« Und: »Mozart hat es mit den Tempi immer ganz genau genommen, es war ihm nicht so wichtig, die Noten kamen ihm einfach viel zu schnell, als daß er auf ihre Geschwindigkeit achten konnte.«
    Van Vliet blieb oft bis weit in die Nacht im Institut. Da konnte er den Kopf auf den Tisch legen und den Tränen freien Lauf lassen.
    Ob er nie an einen Psychiater gedacht habe, fragte ich. Natürlich. Aber er hatte nicht gewußt, wie er ihr den Gedanken hätte nahebringen können, ohne daß sie an die Decke gegangen wäre. Und er hatte sich geschämt, dachte ich.
    Geschämt ? War das der treffende Ausdruck? Er hätte es nicht ertragen, daß jemand von dem Unglück erfuhr, das ihn mit seiner Tochter verband. Daß jemand seine Nase da hineinsteckte. Selbst wenn es ein Arzt war. Und außerdem: Wie hätte ein Fremder etwas an seiner Tochter verstehen können, das er, der Vater, nicht verstand? Er, der sie doch in- und auswendig kannte, weil er sie seit zwanzig Jahren jeden Tag sah und jede Weggabelung, jede Abzweigung, jede Krümmung in ihrer Lebensgeschichte kannte?
    Im Grunde aber war es dieses eine: Er wollte den fremden Blick nicht, den entblößenden Blick eines anderen. Er hätte ihn als vernichtend erleben müssen, vernichtend für Lea und für sich selbst. Ja, auch für sich selbst. So, wie er dann den Blick des Maghrebiners erlebte, den schwarzen, arabischen Blick, den er in seinem Haß am liebsten genommen und in die dunklen Augen zurückgestoßen hätte, ganz nach hinten, bis er erlöschen müßte.
    Hinzu kam, daß ihm etwas gelang, das ihn in der Überzeugung bestärkte, Lea und er könnten die Krise allein überwinden. Eines Tages sah er ein kleines Mädchen, dem ein Hund die Hand und das Gesicht leckte. Da erinnerte er sich an die Zuneigung, die Lea früher von den Tieren erfahren hatte. Er ging mit ihr ins Tierheim. Abends fütterte sie den neuen Hund bereits.
    Sie klammerte sich sofort an das Tier, einen schwarzen Riesenschnauzer, und es machte sie ruhiger, manchmal schien sie fast gelöst. Sie war zärtlich zu ihm, und wenn der Vater sie so sah, konnte er das Heftige und Grausame, das auch in ihr war, fast vergessen. Nur wenn jemand Fremdes dem Hund zu nahe kam, blitzte es auf. Dann war ihr Blick von schneidender Schärfe.
    Sie liebte den Hund und beschützte

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