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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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einige der Projekte zu verschleppen, um sie dann aus der zweiten Tranche zu bezahlen. Er trat ans Fenster und dachte nach. Als ein Mitarbeiter hereinkam und einen Blick auf den Bildschirm warf, zuckte Van Vliet zusammen, obwohl es nichts Verdächtiges zu sehen gab. Als er wieder allein war, versiegelte er die ganze Datei mit einem Paßwort. Dann fuhr er nach Thun zu einer kleinen Privatbank, die er dem Namen nach kannte, und eröffnete ein Nummernkonto.
    »Als ich wieder auf die Straße trat, hatte ich ein Gefühl wie damals, als ich Aktien verkauft hatte, um Leas erste ganze Geige zu bezahlen«, sagte er. »Nur war das Gefühl viel stärker, obwohl ich noch nichts Unrechtes getan hatte und sich alles mit einem Federstrich rückgängig machen ließ.«
    Als er ins Institut zurückkam, beschwerte sich Ruth Adamek darüber, daß sie wegen des Paßworts keinen Zugang zu den Daten mehr hatte. Kühl sagte er etwas von Sicherheit und schüttelte den Kopf, als sie nach dem Wort fragte. Nachher ging er in Gedanken ihre Worte und Blicke durch. Nein, es war unmöglich, daß sie Verdacht schöpfte. Sie konnte doch von seinen Gedanken gar nichts wissen.
    Gegen Abend kam die Antwort aus Chicago: Die Geige war vor wenigen Tagen verkauft worden. Auf dem Heimweg spürte Van Vliet abwechselnd Enttäuschung und Erleichterung. Die Bankunterlagen aus Thun versteckte er in seinem Schlafzimmer. Die Gefahr schien gebannt.
    Caroline kam jetzt öfter vorbei, und Lea ging mit ihr weg. Van Vliet wurde ruhiger. Vielleicht hatte er in Leas Besuch bei Marie zuviel Dramatik hineingelesen. Und war es nicht ganz natürlich, daß sie bei ihrem Hund Trost suchte?
    Doch dann begegnete er Caroline in der Stadt. Ob sie einen Kaffee zusammen trinken könnten, fragte sie scheu. Und dann sprach sie von der Angst, die sie um Lea hatte. Er erschrak, weil er zuerst dachte, auch sie hätte etwas von den Rissen und Sprüngen in Leas Geist gemerkt. Doch das war es nicht. Es waren Leas Erinnerungen an die Konzerte, den Glanz, das Lampenfieber und den Applaus, die Caroline Sorgen machten. Wenn sie zusammen waren, sprach Lea nur davon, stundenlang. Sie vergaß alles um sich herum und reiste zurück in der Zeit, blühte dabei auf, die Augen glänzten, sie blickte zum Fenster des Cafés hinaus in eine imaginäre Zukunft und entwarf Konzertprogramme, eines nach dem anderen. Wenn es dann Zeit wurde zu zahlen, erlosch das alles, sie schien kaum mehr zu wissen, wo sie war, und plötzlich kam sie Caroline vor wie eine alte Frau, die das Leben bereits hinter sich hatte. »Caro«, hatte sie beim letzten Abschied gesagt, »du hilfst mir doch, oder?«
    Van Vliet und Caroline standen auf der Straße. Sie sah, was er sich fragte. »Sie denkt, daß es Ihnen recht ist. Daß mit den Konzerten Schluß ist, meine ich. Daß Sie das Ganze nie mochten. Wegen Davíd, Davíd Lévy.«
    Van Vliet blieb die ganze Nacht im Institut. Die ersten Stunden kämpfte er mit seiner Wut auf Lea. Daß es Ihnen recht ist. Wie konnte sie so etwas denken! War es, weil er viele Konzerte versäumt hatte, um die graumelierte Mähne von Lévy nicht sehen zu müssen? Er ging im Büro auf und ab, blickte über die nächtliche Stadt und sprach mit Lea. Er sprach und debattierte so lange mit ihr, bis die Wut erloschen und nur noch das schreckliche Gefühl übrig war, daß er ihr offenbar ganz fremd geworden war. Er, der im Bahnhof neben ihr gestanden hatte, als Loyola de Colón sie mit ihren Tönen aus der Erstarrung erlöste. Er, an den sie am Küchentisch die Frage gerichtet hatte: »Ist eine Geige teuer?«
    Ich glaube, daß es mehr als alles andere dieses Gefühl, dieses unerträgliche Gefühl der Fremdheit zwischen ihnen war, das Van Vliet in den frühen Morgenstunden dazu brachte, noch einmal auf die Suche nach einer Geige zu gehen, die seine Tochter wieder zum Leben erwecken und ihr beweisen würde, daß sie sich geirrt, daß sie ihn mißverstanden hatte. Diese Geige, sie sollte der lebendige, materielle Beweis dafür werden, daß er bereit war, alles, wirklich alles zu tun, um ihr das Glück der Musik und des Konzertfiebers zurückzugeben. Und als er mir von der tollkühnen, fiebrigen Entschlossenheit erzählte, mit der er sich an den Computer setzte, verstand ich zum ersten Mal die Wucht seines Hasses, der in ihm aufgeflammt war, als der Maghrebiner mit schneidender Stimme jenen Satz zu ihm sagte: C’est de votre fille qu’il s’agit.
    Er fand heraus, daß es im Internet ein Forum für Leute gab, die

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