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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Paßwort, das sie unter Umständen erraten konnte, und ersetzte es durch ein neues, auf das sie unmöglich kommen konnte: delgesù. Dann fuhr er nach Hause.
24
    » WENN LEA , als ich heimkam, nicht mit diesem Blick auf dem Bett gesessen hätte – vielleicht hätte ich es nicht getan«, sagte Van Vliet.
    Wir hatten unsere Hotelzimmer für eine weitere Nacht gemietet und saßen in meinem. Je mehr sich seine Erzählung der Katastrophe näherte, desto öfter brauchte er eine Pause. Am See waren wir manchmal eine halbe Stunde gegangen, ohne daß er ein Wort gesagt hatte. Hin und wieder hatte er einen Schluck aus dem Flachmann genommen, aber nur einen Schluck. Es war unmöglich, jetzt nach Bern zu fahren; es hätte ihn erstarren und das erzählerische Erinnern versiegen lassen. Und so lotste ich ihn zurück zum Hotel. Als ich ihm seinen Schlüssel gab, warf er mir einen scheuen und dankbaren Blick zu.
    »Sie saß da mit angezogenen Beinen, um sich herum lauter Fotos von ihren Auftritten«, fuhr er jetzt fort. »Bilder, wo sie spielte, andere, wo sie sich verbeugte, noch andere, wo der Dirigent ihr die Hand küßte. Es waren so viele, und sie lagen so dicht, daß sie wie eine zweite Bettdecke wirkten, in der es nur die Lücke für ihren kauernden Körper gab, eine kleine Lücke, denn sie aß ja kaum noch etwas und wurde immer dünner. Ihr Blick war leer und weit weg, so daß ich dachte: So sitzt sie schon seit Stunden.
    Sie sah mich mit einem Blick an, der mich sofort an Carolines Worte erinnerte: daß es Ihnen recht ist . Wenn es wenigstens ein wütender Blick gewesen wäre! Ein Blick, der einen Kampf hätte eröffnen können, wie ich ihn nachts im Büro mit ihr geführt hatte. Doch es war ein Blick fast ohne Vorwurf, nur voller Enttäuschung, ein Blick ohne Zukunft. Ob ich etwas kochen solle, fragte ich. Sie schüttelte unmerklich den Kopf, fast war es nur das Zitat eines Kopfschüttelns. Als ich dann in der Küche stand, wo mich ihr Blick verfolgte, dachte ich etwas, das ich noch nie gedacht hatte, und es tat mir so weh, daß ich mich festhalten mußte. Was ich dachte, war: Sie wünschte sich einen anderen Vater . Verstehen Sie jetzt, daß ich nach Cremona mußte? Daß ich einfach MUSSTE ?«
    Ich hatte ihm kein Zeichen gegeben, daß ich es nicht verstünde, im Gegenteil. Doch je näher wir der Tat kamen, mit der er eine Grenze überschritten hatte, desto mehr wurde ich, wie mir schien, in ihm auch zum Richter, einem Richter immerhin, um dessen Verständnis man werben und den man für sich gewinnen konnte. Er saß auf meiner Bettkante, die Hände, die sich um den Flachmann krampften, zwischen den Knien. Er sah mich kaum an, sprach auf den Teppich hinunter. Doch jede Bewegung, die ich im Sessel machte, irritierte ihn, die Konzentration flackerte, ein Anflug von Ärger huschte über die müden Züge.
    Leise hatte er damals die Wohnungstür hinter sich geschlossen und war zurück ins Institut gegangen. Er schloß sich im Büro ein und überwies die Hälfte der eingegangenen Forschungsgelder per Mausklick auf sein Konto in Thun. »Dieser eine Druck des Fingers auf der Maustaste«, sagte er heiser, »ein Druck unter Hunderttausenden, ununterscheidbar von allen anderen und doch herausgehoben aus ihnen – ich werde ihn nie vergessen. Auch die Gesichtsmuskeln dabei werden mir für immer in Erinnerung bleiben, sie krampften sich zusammen und waren ganz heiß.«
    Martijn van Vliet, der als Junge auf dem Bett gelegen und sich gewünscht hatte, Geldfälscher zu werden. Martijn van Vliet, der im Schach jede Herausforderung annahm und keiner Versuchung widerstehen konnte, ein tollkühnes, dem Gegner unverständliches Gambit zu spielen. Jetzt, unmittelbar nach dem verhängnisvollen Mausklick, hatte er Angst. Es muß eine höllische Angst gewesen sein. Sie war als Schatten in seinem dunklen Blick noch jetzt zu erkennen.
    Doch er fuhr. Zunächst nach Thun und dann, mit einem Koffer voller Banknoten, nach Cremona.
    Ich sah ihn an, wie er auf der Bettkante saß und vom italienischen Zöllner erzählte, der am Abteil vorbeiging, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Unter einem klaren, blauen Himmel war er durch die Poebene gefahren, schwindlig vor Aufregung. Es war auch Angst dabei, die Angst des Mausklicks, aber je weiter es nach Süden ging, desto mehr wich sie dem Fieber des Spielers.
    »Ich rauchte, ich hielt den Kopf in den Wind, ich rauchte und trank aus dem Pappbecher den miesen Kaffee des Getränkewagens.« Er krampfte die Hände

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