Lea
um den Flachmann, die Knöchel waren weiß.
Es war sonderbar: Da war die Kraft, ja die Gewalt der großen Hände, in der das schlechte Gewissen und die Wut auf das schlechte Gewissen zum Ausdruck kamen. Dort, zwischen seinen Knien, fand der Kampf mit dem inneren Richter statt. Und darüber, auf der Höhe von Blick und Stimme, kamen nun all die Worte, in denen man den Fahrtwind spürte, den Wind einer Fahrt, die ihn in das verrückteste Abenteuer seines ganzen Lebens getrieben hatte. Ich sah von den weißen Knöcheln weg, ich wollte nicht, daß er sich zerfleischte, er sollte leben, leben. Ich dachte an Liliane und andere Gelegenheiten, wo ich nicht gelebt hatte, was ich hätte leben können und vielleicht hätte leben sollen.
»Es war verrückt, vollständig irre, um Mitternacht mit einem Koffer voller veruntreuten Geldes zu der Auktion eines verschrobenen Greises von krankhaftem Geiz zu gehen, um eine der teuersten Geigen der Welt zu ersteigern. Eigentlich konnte es gar nicht wahr sein, daß ich dahin ging. Doch es stimmte, ich hörte meine Schritte auf dem Pflaster, und als ich auf ihr leises Echo in der menschenleeren Gasse horchte, sah ich auf einmal wieder die Straße vor mir, die Lea entlanggegangen war, als sie von Marie kam und die falsche Richtung einschlug. Auch jetzt blich die endlose, schnurgerade Straße aus, der Schein jenes fernen Ausbleichens legte sich über den trüben Schein der nackten Glühbirnen, die die Gasse in Cremona an Stelle von Laternen kärglich erleuchteten. Und auch jetzt spürte ich wieder, wie gut die Wirklichkeitsferne meines nächtlichen Gangs der Wirklichkeitsferne entsprach, die sich in Lea ausbreitete.«
Van Vliet schloß die Augen. Vor der Tür gingen lärmende Gäste vorbei. Er wartete, bis es wieder still war.
»Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Es hat so vieles, es hat alles zerstört. Und doch: Ich möchte den Moment nicht missen, als ich durch die blaue Tür trat, zwischen feuchten Wänden die Treppe hochstieg und bei dem Alten an die Tür klopfte. Es war, als ob ich im Zustand höchster Wachheit einen vollständig luziden Traum durchlebte und schwerelos, von nichts anderem gehalten als von der Absurdität, in einem imaginären Raum stünde, der der Raum auf einem Bild von Chagall hätte sein können, märchenhaft und schrecklich schön. Und auch die folgenden Stunden möchte ich nicht missen; diese verrückten, aberwitzigen Stunden, in denen ich sie alle aus dem Rennen warf.«
Der Alte wohnte in zwei Zimmern, getrennt durch eine Schiebetür. Die Tür stand offen, damit die sieben Männer, die mitboten, auf ihren wackligen Stühlen Platz hatten. Trotzdem war es so eng, daß sie sich unweigerlich berührten. Es muß stickig gewesen sein, überall lagen Staubmäuse, und aus jedem Winkel kam der säuerliche Geruch nach Greis. Einer der Männer, dem man die Übelkeit ansah, stand wortlos auf und ging.
Signor Buio, ganz so gekleidet, wie die Legende sagte, saß in einem schmierig aussehenden Lehnstuhl in der Ecke. Von dort konnte er alles überblicken und den Blick seiner hellen Augen, die im Laufe der Nacht immer mehr auszubleichen und immer irrer zu werden schienen, auf jeden einzelnen richten. Niemand war beim Eintreten begrüßt worden, die Tür war wie von Geisterhand von einem unscheinbaren Mädchen geöffnet worden, das dastand, als stünde niemand da. Keiner schien den anderen zu kennen, niemand stellte sich vor, man sah sich befremdet, kalkulierend und mißtrauisch an.
Van Vliet erzählte es so, daß ich dachte: Er hat sie genossen, diese surrealistische Situation.
»Ein bißchen war es wie eine Versammlung von Fledermäusen, wir sahen uns gar nicht richtig, sondern hörten und spürten uns nur«, sagte er. Es war, denke ich, diese absolute, gespenstische Fremdheit, die er genoß. Nicht so, wie man etwas Angenehmes genießt. Eher so, wie man sich darauf stürzt und sich daran klammert, wenn sich herausgestellt hat, daß eine rabenschwarze, verzweifelte Vermutung der Wahrheit entspricht.
Bei ihm war es die Vermutung einer letzten, unüberbrückbaren Fremdheit zwischen den Menschen. Und eigentlich ist es falsch, es eine Vermutung zu nennen. Eher war es in ihm wie eine abgelagerte Erfahrung, der Bodensatz aller anderen Gefühle. Ich habe das Wort Fremdheit aus seinem Munde nicht gehört. Doch wenn ich die Augen schließe und in seine Erzählung hineinhöre wie in ein Musikstück, so wird mir klar, daß er die ganze Zeit von nichts anderem sprach als von
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