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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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dieser Fremdheit. Er kannte sie schon als Gassenjunge und Schlüsselkind. Dann kam der Lehrer, der ihm die Bücher von Louis Pasteur und Marie Curie schenkte. Es kamen Jean-Louis Trintignant und Cécile. Und vor allem kam für einige Jahre Lea, die er als Bollwerk gegen die Fremdheit erlebte oder doch erleben wollte, bis sie im Rosengarten à très bientôt zu Lévy sagte und er sie einige Zeit danach tablettentrunken durch die Wohnung schleppen und sich ihre ordinären Ausbrüche anhören mußte, um schließlich von Caroline zu erfahren, daß sie ihn derart unbegreiflich mißverstand. Und dann brach dieser Mann mit Millionen von gestohlenem Geld zu einer Reise auf, um mit einer Guarneri del Gesù denjenigen Gegenstand – einen wahrhaft magischen Gegenstand – in seinen Besitz zu bringen, der als einziger, wie ihm schien, das Mißverständnis beseitigen und die Fremdheit überwinden könnte, und landete in einer Versammlung von Fledermäusen, die ihm die ganze Fremdheit in roher, unmißverständlicher Form vor Augen führte. Das , diese fulminante, himmelschreiende Paradoxie, war es, was er genoß. Es muß eine schwindelerregende Erfahrung gewesen sein, ein Vertigo der Einsamkeit, eine rasende Abwärtsspirale selbstzerfetzender Einsicht. Und ja: Martijn van Vliet war genau der Mann, der das genießen würde.
    Ich fragte mich, wie es sein würde, wenn die Fremdheit zwischen ihm und mir aufbrach. Und sie würde aufbrechen. Ich schloß die Augen, hörte zu und stellte mir vor, wir führen wieder durch die Camargue, rechts und links Reisfelder und Wasser, in dem sich ziehende Wolken unter hohem Himmel spiegelten. Le bout du monde. Wir hätten dort unten bleiben sollen, lachend vor der weißen Wand und trinkend im Gegenlicht, und das Ende hätte sein müssen wie ein eingefrorenes Bild am Schluß eines Films.
    »Die Geigen kamen aus einer großen Schiffstruhe, die neben dem Sessel des Alten stand«, fuhr Van Vliet fort. »Aufgemalte Anker an der Seite, abblätternde Farbe. Ein riesiges Ding, sicher ein Meter hoch und mindestens doppelt so lang. Darin und nicht im Schrank oder unter dem Bett, wie man sich erzählte, lagen die Geigen, und sie waren vorsichtig geschichtet, mit weichen Tüchern dazwischen. Die enormen Messingverschlüsse quietschten, als der Alte die Kiste öffnete und die erste Geige herausnahm.
    Es war eine Geige von Pietro Guarneri, dem ältesten Sohn von Andrea und Onkel von del Gesù, ich erinnere mich, weil ich von ihm am wenigsten wußte, in dem Buch, das ich damals aus Mailand mitgebracht hatte, konnte man über ihn am wenigsten lesen.
    ›Mille milioni!‹ rief der Alte, es war ja damals noch die Zeit der Lira. Zu einer der weniger wertvollen Guarneris paßte dieser Preis. Doch je weiter die Nacht fortschritt, desto besser verstand ich, daß diese Worte für den Alten viel mehr waren als Worte für einen nüchternen Preis. Es waren Worte, die natürlich viel Geld bedeuteten, doch darüber hinaus standen sie für eine abgerundete, leuchtende Einheit von Reichtum, für die Ureinheit des Reichtums, für die Idee des Geldes überhaupt. Mille milioni – das war die ultimative Geldsumme, hinter der es keine größere geben konnte. Due mila milioni, tre mila milioni – das wäre, obgleich ein Vielfaches, weniger.
    Die Geige wurde von einem Mann in einem Anzug gekauft, der von Armani sein mußte und zu dem schäbigen Ort paßte wie die Faust aufs Auge. Bis auf mich und einen Franzosen waren die Männer alle Italiener, zumindest der Sprache nach. Doch dann fiel einem von ihnen, als er etwas in seinen Papieren suchte, der Paß auf den Boden, praktisch vor die Füße des Alten. Es war ein amerikanischer Paß. › Fuori!‹ schrie er, ›fuori!‹ Der Mann wollte erklären, sich verteidigen, doch der Alte wiederholte seinen Schrei, und schließlich ging der Mann. Es war eisig in dem Raum, obgleich wir schwitzten.
    Das unscheinbare Mädchen, das lautlos hereingekommen war und sich an den Tisch in der Ecke gesetzt hatte, schrieb alles auf. Die Geigen gingen von Hand zu Hand, die anderen hatten alle kleine Lämpchen in der Form von Füllfederhaltern, mit denen sie hineinleuchteten, um den Geigenzettel zu sehen. Diese Männer waren erfahrene Leute, die man nicht leicht würde übertölpeln können, das sah man an der Art, wie ihre Hände die C -Bügel und f- Löcherentlangfuhren, die Schnecken abtasteten und den Lack prüften. Und trotzdem füllte Mißtrauen den Raum. Die meisten, bevor sie boten, lehnten sich

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