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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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zurück und betrachteten den Alten aus halb geöffneten Augen mit abschätzendem Blick. Was mit Echtheitszertifikaten sei, fragte jemand. › Sono io il certificato‹ , ich bin das Zertifikat, sagte der Alte. Eigentlich kaufe er nie, ohne die Geige vorher gehört zu haben, sagte ein älterer Herr von vornehmem Aussehen, den man sich in einem venezianischen Palazzo vorstellen konnte. Niemand werde gezwungen zu kaufen, erwiderte der Alte trocken und endgültig.
    Die Guarneri del Gesù kam als neunte oder zehnte. Ich lieh mir ein Lämpchen. JOSEPH GUARNERIUS FECIT CREMONAE ANNO 1743 † IHS stand auf dem vergilbten Geigenzettel. Es mußte eine seiner letzten Arbeiten sein, er war 1744 gestorben, unweit von hier. Konnte man einen solchen Zettel fälschen und nachträglich hineinpraktizieren? Es war ein kleineres Format, das Meßband machte die Runde. Geringe Boden- und Deckenwölbung, offene C -Bügel, kurze Ecken, lange f -Löcher, prachtvoller Lack. Die typischen Merkmale. Dazu gab es einen hellen Fleck, wo die Kinnstütze gesessen hatte, ähnlich wie bei Il Cannone , die Paganini gespielt hatte.
    ›Mille milioni e mille milioni e mille milioni!‹ krächzte der Alte. Wie er diese Worte liebte und genoß! Ich begann ihn zu mögen. Trotzdem war ich auch mißtrauisch. Das Krächzen, da war ich inzwischen sicher, war Show, eine Show für uns arme Irre, die wir mitten in der Nacht bei ihm antanzten, um unsere Gier nach Guarneris zu befriedigen. Was alles war sonst noch Show?
    Drei Milliarden Lire. Das war fast soviel, wie ich dabeihatte. Die teuerste del Gesù hatte bei Sotheby’s in London 6 Millionen Pfund gebracht. Damit verglichen war diese hier billig. Ich wollte sie haben. Ich dachte daran, wie ich mit Lea am Küchentisch gesessen und Il Cannone betrachtet hatte. Zuerst hatte der helle Fleck sie gestört, dann hatte sie gesagt: ›Eigentlich ist es ganz gut, irgendwie echt und lebendig, man kann fast die Wärme von Niccolòs Kinn spüren.‹ Ich wollte wieder mit ihr am Küchentisch sitzen. Sie mußte die Augen schließen, ich legte diese Geige hier vor ihr auf den Tisch, dann durfte sie die Augen öffnen. Sie stand auf, und unsere Wohnung verwandelte sich in einen Dom aus sakralen Guarneri-Tönen. Aus ihren leuchtenden Augen war alles Trübe und alle Leerheit verschwunden, die schlimmen Dinge der letzten Zeit waren mit einem Schlag vergessen, Lévy war ferne Vergangenheit, Maries ›Nein!‹ wie nie gewesen, die fotografierten Szenen auf dem Bett zu Schatten herabgesunken. Ich mußte die Geige haben. Fortan würde es nur noch die offene, glückliche Zukunft von LEA VAN VLIET geben, die viel strahlender war als die Vergangenheit von Mademoiselle Bach. Und diese Lea van Vliet würde sich mit einer Geige zurückmelden, welche die Amati von früher bei weitem übertraf. Ich mußte sie haben, um jeden Preis. «
    Er warf mir einen scheuen, fragenden Blick zu: ob ich verstünde. Ich nickte. Natürlich verstand ich, Martijn. Niemandem, der dich davon sprechen hörte, wäre es anders gegangen. Jetzt, wo ich es aufschreibe, kommen die Tränen, die ich damals unterdrückte. Du saßest wieder hinter dem Steuer des Rennwagens, den Jean-Louis Trintignant von der Côte d’Azur nach Paris fuhr, ein Mann, der alles gegeben hatte, einfach alles , wie du sagtest, und du suchtest noch einmal die ganze Stadt ab, um das Parfum von Dior zu finden, das Cécile benutzt hatte.
    Warum hast du mich nicht angerufen.
    »Ich fing an zu bieten. Es war das erste Mal, bisher hatte ich nur schweigend zwischen den anderen gesessen, im Rückblick kommt es mir vor, als hätte ich auf meinem unbequemen Stuhl in einem imaginären Raum geschwebt, in einem Raum wie bei Chagall, irgendwo auf halber Höhe, gehalten von nichts außer der Absurdität der Situation. Und nun trat ich in den wirklichen, heißen Raum ein, in dem die Luft zum Schneiden und der Geruch zum Erbrechen war.
    Ich hatte die Geige so lange in Händen gehalten, daß die anderen unruhig geworden waren. Als mein Blick nun das Gesicht des Alten streifte, dachte ich: Er hat gemerkt, wieviel sie mir bedeutet. War es ein Lächeln, das aus den hellen Augen und dem ausgemergelten Gesicht sprach? Ich wußte es nicht, aber der Ausdruck brachte mich dazu weiterzubieten, immer weiter, die Summe war inzwischen viel höher als der Betrag in meinem Koffer, doch das Gesicht des Alten gab mir den verzweifelten Mut dazu. Er würde mir die Differenz stunden, dachte ich vage, während ich die

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