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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Fünf-Milliarden-Grenze überschritt. Fünf Milliarden Lire, an die vier Millionen Franken – nun war jede andere Summe auch möglich. Ich war in einem anderen imaginären Raum angekommen, dem Raum des federleichten Spielgeldes, das alles und nichts wert ist. Den sorgenvollen Gesichtern der anderen sah man die horrenden Summen an. Ich aber wurde entspannter und entspannter, es war eine rasende Achterbahnfahrt, ich lehnte mich zurück und genoß die Aussicht, bald aus der Kurve getragen zu werden, weit hinaus, wo die Dinge ausblichen. Am Schluß war ich der einzige, der noch bot. Sechs Milliarden Lire, gut viereinhalb Millionen Franken. Das Mädchen blickte in die Runde, dann schrieb sie die Summe auf.
    Der Alte sah mich an. Sein Blick war nicht schneidend wie früher in der Nacht. Auch ein Lächeln war nicht im Blick. Aber etwas Sanftes war in den Augen, ein Wohlwollen, das schwer zu deuten war, und darüber blickten die hellen Augen plötzlich ganz normal in die Welt. Das Irre im Blick war verschwunden, so daß ich dachte: Der irre Blick, er ist wie das Krächzen nur Show, der Alte mag verschroben sein, die Kiste mit den Geigen beweist es, aber verrückt ist er nicht, und er hält uns alle zum Narren.
    ›I violini non sono in vendita‹ , die Geigen sind nicht verkäuflich. Der Alte sagte es leise und doch sehr deutlich. Danach büschelte er die Lippen zu einem spöttischen, verächtlichen Grinsen. Ich weiß nicht, für mich kam es nicht völlig überraschend. Der Alte war mir mehr und mehr wie ein Spieler, ein Clown, ein Scharlatan vorgekommen. Die anderen aber saßen da wie geohrfeigt. Keiner sagte ein Wort. Ich sah zu dem Mädchen hinüber: War sie eingeweiht gewesen, angestellt, der Show den Anschein der Echtheit zu geben?
    Der Mann im Anzug von Armani erwachte als erster zum Leben. Er war bleich vor Wut. ›Che impertinenza …‹ , murmelte er, stieß beim Aufstehen den Stuhl um und stürmte hinaus. Zwei andere erhoben sich, blieben eine Weile stehen und sahen den Alten an, als würden sie ihm am liebsten den Hals umdrehen. Der Herr, den ich mir im venezianischen Palazzo vorgestellt hatte, war sitzen geblieben und rang mit seinen Gefühlen. Wie er aussah, mußte Rage dabei sein, aber auch der Versuch, die Sache mit Humor zu sehen. Schließlich ging auch er, der einzige, der sich zu einem Buona notte! aufraffen konnte.
    Ich war sitzengeblieben, ich weiß nicht warum. Vielleicht wegen der Art, wie mich der Alte zuletzt angesehen hatte. Er tat, als sei auch ich nicht mehr da, stand mit überraschend elastischen Bewegungen auf und öffnete die Fenster. Kühle Nachtluft strömte herein, über den Dächern war ein erster Lichtschein zu erkennen. Ich wußte nicht, was ich sagen oder tun sollte, wußte eigentlich nicht, was ich überhaupt wollte. Gerade hatte ich mich entschieden zu gehen, da trat der Alte vor mich hin und bot mir eine Zigarette an. ›Fumi?‹ Keine Spur von Krächzen mehr, und die Anrede mit du klang wie ein unbestimmtes Versprechen.
    Er war einfach ein Kauz, der es genoß, ein Kauz mit einem Haufen Geld zu sein. Ich hatte den Eindruck: Das war das einzige, was er in seinem Leben hatte genießen können. Nicht, daß er etwas über sich gesagt hätte. Und ihm Fragen zu stellen – das verbot sich durch das Spannungsfeld, das ihn umgab und ihn, wenn er falsch behandelt wurde, gefährlich machen konnte. Statt dessen fragte er mich, warum ich die del Gesù um jeden Preis haben wolle.
    Was sollte ich machen? Entweder erzählte ich ihm von Lea, oder ich ging. Und so erzählte ich in den frühen Morgenstunden, in denen ich die Turmuhr schlagen hörte, einem verschrobenen, steinreichen italienischen Greis, der in einem schäbigen Loch in Cremona saß, eine Truhe voller Geigen neben sich, das ganze Unglück meiner Tochter.«
    Damals, im Hotelzimmer, habe ich es nicht gemerkt, doch jetzt spüre ich: Ich war eifersüchtig auf den Alten und enttäuscht, daß ich nicht der einzige war, dem Van Vliet vom Unglück seiner Tochter erzählt hatte. Ich war froh, daß Signor Buio das, was danach kam, nicht hatte hören können.
    »Der Alte deutete auf den Tisch, an dem das Mädchen geschrieben hatte. Erst jetzt sah ich, daß es auch ein Schachtisch war. ›Spielst du?‹ Ich nickte. ›Wir schließen einen Handel‹, sagte er. ›Eine Partie, nur eine. Du gewinnst – du bekommst die del Gesù umsonst; du verlierst – du zahlst mir mille milioni dafür.‹ Er holte Figuren und stellte sie auf.
    Es würde die

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