Lea
wichtigste Partie werden, die ich jemals zu spielen hatte.
Ich will gar nicht zu beschreiben versuchen, was ich fühlte. Ich könnte das ganze Geld in Thun wieder einzahlen und zurücküberweisen, das Paßwort löschen. Alles wie nie gewesen. Und trotzdem würde Lea am Küchentisch die Augen öffnen, die Geige nehmen und aus der Wohnung eine Guarneri-Kathedrale machen. Es war irre, mein Gott, es war so irre, daß ich alle paar Minuten auf die Toilette mußte, obwohl schon längst nichts mehr kam. Der Alte dagegen saß die ganze Zeit beinahe regungslos vor dem Brett, die Augen halb geschlossen.
Er eröffnete sizilianisch, wir spielten neun oder zehn Züge, dann war er erschöpft und mußte ins Bett, wir verabredeten uns für den Abend. Damit begannen drei vollständig verrückte Tage. Tage der Schach-Trance, der Euphorie und der Angst, Tage, die ganz auf den nächsten Abend hin gelebt wurden, wo die Partie weiterging. Ich kaufte Brett und Figuren, wechselte in ein ruhigeres Hotel, besorgte mir ein Schach-Lehrbuch und ging alles durch, was mir helfen könnte, diese verrückte Partie zu gewinnen, die der Alte mit enormer Raffinesse und Übersicht herunterspielte, als sei es nichts. Nach der zweiten Nacht nahm ich ein Schlafmittel und schlief zwölf Stunden, dann ging es wieder.
Ich ging in den Dom, ich war auf einmal hungrig nach geistlicher Musik. Ich sah, wie Marie das Kreuz auf Leas Stirn zeichnete. Wenn ich die Augen schloß und den riesigen Raum durch seine herbe Kühle und den Geruch nach Weihrauch spürte, kam es mir vor, als säße ich mitten in der Kathedrale, die sich Lea jedesmal, wenn sie den Bogen ansetzte, mit ihren klaren, warmen Tönen baute – eine Kathedrale, die ihr Schutz bot gegen das Leben und die zugleich auch Leben war.
Es gab eine Platte zu kaufen, auf der Musik von Bach auf berühmten Cremoneser Geigen gespielt wurde, damit man vergleichen konnte. Ich lag auf dem Bett und hörte die verschiedenen Klänge: Guarneri, Amati, Stradivari. Man braucht Zeit, bis man unterscheiden kann. Natürlich wußte ich, daß nicht alle Guarneris gleich klingen, auch nicht alle del Gesùs. Trotzdem reiste ich mit dem Guarneri-Klang der Platte in unsere Küche und ließ Lea die Kathedrale bauen. Die Töne hatten die Farbe Sepia, das schien mir offenkundig, auch wenn ich es niemandem hätte erklären können.
Es war am Ende der zweiten Nacht, daß ich spürte: Ich werde verlieren. Dabei sah es, als ich ging, nicht eindeutig aus. Aber die Züge des Alten hatten etwas Zwingendes, dem ich mich nur entgegenstemmte, ohne den Duktus seines Angriffs brechen zu können. Ich habe die Partie im Hotel stundenlang analysiert, und auch später habe ich sie Dutzende von Malen nachgespielt, ich könnte sie Ihnen aufsagen wie einen Kinderreim, den man nicht nur im Kopf, sondern im ganzen Körper hat. Grobe Fehler habe ich keine gemacht, aber einen Einfall, der das Ganze hätte drehen können, hatte ich auch nicht. Wir spielten mit Figuren aus Jade, der einzige Luxus weit und breit. Und es gab etwas Irritierendes an ihnen: Es mischte sich in ihnen die gewöhnliche grüne Jade mit der seltenen rötlichen Jade, rötliche Adern durchzogen die grünen Körper der Figuren. Das stiftete Unruhe für die Augen und irgendwie auch für die Gedanken, ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, daß mir die letzte Konzentration fehlte, die sich vor einem Brett sonst einstellte. Aber eigentlich kann es das nicht gewesen sein, denn ich kam auch vor dem Brett im Hotel nicht auf die Lösung. Irgendwann gingen mir meine Parisiennes aus, und alle anderen Zigaretten, die ich probierte, brachten mich durcheinander. Trotzdem war es auch zu Hause, mit einer Parisienne zwischen den Lippen, nicht besser. Er war einfach zu gut für mich.
Gegen vier Uhr in der letzten Nacht sah ich ihn an. Er las die Kapitulation in meinem Blick. ›Ecco!‹ sagte er und lächelte matt, auch er war erschöpft. Er holte zwei Gläser und schenkte Grappa ein. Unsere Blicke begegneten sich.
Wenn ich denke, daß ich ihn in diesen Minuten vielleicht hätte umstimmen und dazu bringen können, mir die Geige zu schenken! Drei Nächte mit jemandem am Brett, Ewigkeiten des Wartens auf den nächsten Zug, das Eindringen in die Gedanken des anderen, in seine Pläne und Finten, in die Gedanken über die eigenen Gedanken, der andere als Zielscheibe der Hoffnung und der Angst – all das hatte eine große Intimität geschaffen, aus der heraus es vielleicht möglich gewesen wäre. Ein
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