Lea
von hinten, das Haar stand ihr wirr vom Kopf ab, nein, wie eine Furie sah sie jetzt nicht mehr aus, das war nur für einen Moment gewesen, immer mehr war sie ein verzweifeltes kleines Mädchen, das aus Wut und Trauer das Spielzeug kaputtschlägt, geschüttelt von Anfällen des Schluchzens, die man nicht mitanhören konnte, so daß die Leute weggingen.
Die Geige blieb auf dem Metall stecken, als Lea schließlich zusammensank, eine Stufe hinunterglitt und mit kraftlosen Armen nach dem Pfosten tastete. Jetzt erst war ich bei ihr, umfaßte sie und strich ihr übers Haar. Das Schluchzen hörte auf. Ich hoffte, sie könnte wenigstens einige Momente der entspannten Erschöpfung durchleben. Aber ihr Körper hatte sich bereits wieder versteift, ich spürte, wie sie an dem Geschehenen bereits zu ersticken begann, eine Erstickung, die sich immer weiter nach innen fraß. Als ich sie in Saint-Rémy hinter dem Brennholz sah – und auch sonst, wenn sie im Fernglas erschien –, spürte ich diesen erstarrenden, erstickenden Körper in meinen Armen.«
Gegen mich gerichtet und auch nicht. Er sagte es nicht, doch die Stille im Zimmer war voll davon. Erst jetzt verstand ich ganz, wie es für ihn geklungen haben muß, als der Arzt sagte: C’est de votre fille qu’il s’agit , und: Sie ziehen nicht nach Saint-Rémy .
In der Nacht versuchte ich, etwas von dem Drama in mir nachzubilden. Leslie hatte für eine Weile gemalt, ziemlich gut, und ich hatte ihr Malzeug ins Internat gebracht, auch eine Staffelei. Als sie erlahmte, drängte ich sie weiterzumachen und fragte am Telefon danach. Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, wenn sie eines Tages das Küchenmesser genommen und ihre Bilder zerfetzt hätte, vor allem diejenigen, die ich mochte und im Büro in der Klinik aufgehängt hatte. Es war nur Phantasie, nur ein Schatten, ein Hauch, verglichen mit den Bildern, die Van Vliet aus dem Hotel in Stockholm mitgenommen hatte. Und doch fröstelte mich.
Kein Alkohol mehr, sagte ich zu ihm und gab ihm später eine Schlaftablette. Wie der schwedische Arzt, der Lea eine Beruhigungsspritze gab. Van Vliet hatte an ihrem Bett gesessen, die ganze Nacht. Das ist das Ende. Immer wieder dieser Gedanke, dieser innere Rhythmus, dieser Klang der Endgültigkeit. Das Ende von Leas Leben mit der Musik. Das Ende seines beruflichen Lebens, denn nun hatte er keine Möglichkeit mehr, das veruntreute Geld zurückzuzahlen. Das Ende der Freiheit, denn irgendwann käme es an den Tag. War es auch das Ende ihrer Zuneigung zu ihm?
Sie saßen bei Marie auf dem Sofa mit den Kissen aus Chintz. Er ging mit ihr durch Rom. Er saß mit ihr am Küchentisch und hörte sie fragen, ob sie nicht nach Genua fahren und Paganinis Geige ansehen könnten. Er hielt sie in den Armen, bevor sie in die Maturitätsprüfung ging. Er dachte auch daran, daß sie keine Liste zusammenbekamen, als sie die erste ganze Geige mit einem Fest feiern wollten. Ich will lieber üben. Auch diesen Satz, den er später in den dunklen Blick des Maghrebiners hineinstoßen wollte, holte er hervor, zusammen mit Leas Freudentränen auf dem Jahrmarkt, als sie den goldenen Ring zog. Was hatte er falsch gemacht? Was mußte er sich vorwerfen? Falsches Tun? Falsches Empfinden? Gab es das überhaupt: richtiges und falsches Empfinden? Empfindungen – waren sie nicht einfach, wie sie waren, Punkt?
Er hatte in Stockholm einen Wagen gemietet und war mit Lea nach Hause gefahren. Sie nahm Medikamente und schlief viel. Wenn sie wach war und sich ihre Blicke begegneten, erschien dieses Lächeln auf ihrem Gesicht.
»So, wie man jemanden anlächelt, dem gegenüber man eine Schuld hat, die nie getilgt werden kann, eine Schuld, die alles unter sich begräbt, und man gibt in dem Lächeln zu verstehen, daß man das weiß. Ein Lächeln, das dort beginnt, wo alles Bitten um Vergebung aufhört. Das Lächeln als einzige Lösung, um nicht zu versteinern.«
Manchmal dachte er, sie führen in die falsche Richtung; besser wäre der Norden, Lappland, Dunkelheit, Flucht. Dann wieder wollte er vergessen, daß es Skandinavien überhaupt gab. Die Trümmer der Geige zusammenfügen, Splitter für Splitter, und wenn der letzte in die alte, makellose Gestalt eingefügt und mit dem magischen Lack, dessen Zusammensetzung ja bekannt sein mußte, überzogen war: Alles vergessen, was mit dem Treppenpfosten und seiner Schlangenspitze zu tun hatte. Vergessen, einfach vergessen. Sie waren ins Hotel zurückgekommen und ruhig die Treppe
Weitere Kostenlose Bücher