Lea
ja, es war die dritte, genau die dritte. Sie drehte sich um und wandte sich dem Publikum zu, sozusagen. Doch sie sah uns nicht an, der Blick war gesenkt, dunkel und zerstreut, wie mir schien. Es gab keinen Grund, warum sie nun nicht gleich zu spielen begann. Keinen Grund, den man erkennen konnte. Neben mir klickte ein Feuerzeug. Heftig wandte ich mich um und verbot dem Mann mit einer herrischen Geste, die Zigarette anzustecken. Lea sah vor sich hin, einer seelenlosen Statue gleich. In diesen Sekunden muß es sich vorbereitet haben.
Endlich nahm sie die Geige und begann zu spielen. Es waren Takte aus dem Anfang des Mozart-Konzerts vom Abend. Urplötzlich, praktisch mitten in einem Ton, brach sie ab. Der Abbruch war so abrupt, daß die folgende Tonlosigkeit fast weh tat. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, das sei es gewesen, sie habe genug und wolle ins Bett. Oder dachte ich es wirklich? Selbst für eine kurze Kostprobe war der Abbruch zu abrupt, bizarr, ohne jedes Gefühl für musikalische Gestalt. Und die Entfremdung, die darin lag, fand ihre Entsprechung auf Leas Gesicht. Schon auf der Fahrt ins Konzert hatte ich gefunden, daß sie sich sehr bleich gepudert hatte. Das tat sie manchmal, wir konnten uns nie einigen. Und als sie nun wieder zu spielen begann, wurde aus dem hellen Puder die weiße Maske von Loyola de Colón.
Denn Lea spielte, wie vor einiger Zeit zu Hause im Treppenhaus, die Musik, die wir damals im Berner Bahnhof gehört hatten. Sie spielte sie so, wie ich sie von ihr noch nie gehört hatte: wütend, mit Bogenstrichen, die so heftig waren, daß sie kratzten, ein Bogenhaar nach dem anderen riß, die weißen Haare wischten übers Gesicht, es war ein Anblick von Trotz, Verzweiflung und Verwahrlosung, unter den geschlossenen Lidern quollen Rinnsale von Wimperntusche hervor, jetzt sah man auch die Tränen, Lea kämpfte dagegen, ein letzter Kampf, noch war sie eine Geigenspielerin, die sich gegen den inneren Ansturm mit festen Fingergriffen wehrte, sie preßte die Lider gegen die Augäpfel, preßte und preßte, der Bogen geriet ins Schlittern, die Töne verrutschten, eine Frau neben mir sog entsetzt die Luft ein, und dann ließ Lea, die Augen voller Tränen, die Geige sinken.
Es hatte weh getan, und auch jetzt tat es weh, sie dort auf der Treppe stehen zu sehen, erschöpft, geschlagen, vernichtet. Doch noch war es keine Katastrophe. Ein paar wenige Leute hatten es gesehen und würden es der Erschöpfung nach dem Konzert zuschreiben. ¡Pobrecita! flüsterte jemand hinter mir.
Erst als Lea den Bogen fallen ließ und die Geige mit beiden Händen am Hals faßte, wußte ich: Das ist das Ende.«
Van Vliet stand auf und trat ans Fenster. Er hob die Arme, lehnte sich nach vorn und preßte die offenen Handflächen gegen die Scheibe. In dieser sonderbaren Haltung, die ein Stützen war und zugleich wie der Versuch wirkte, sich durch die Scheibe hindurch in die Tiefe zu stürzen, beschrieb er rauh und stockend das Geschehen, das er mit aller Gewalt aus seinem Kopf hatte entfernen wollen.
»Sie riß die Geige hoch über den Kopf, schwang sie noch ein bißchen nach hinten, um besseren Anlauf zu haben, und dann ließ sie sie mit der Rückseite auf die Metallspitze des Treppenpfostens hinuntersausen. Ich wünschte, sie hätte wenigstens die Augen geschlossen, als Zeichen dafür, daß es ihr in einem Teil ihrer selbst auch leid tat, das kostbare Instrument zu zerstören. Doch ihr Blick begleitete alles, den Schwung und das Splittern, ein Blick aus weit geöffneten, verstörten Augen. Und das war erst der Anfang. Der Rücken der Geige war aufgeplatzt, die Metallspitze hatte sich im Splitterrand der Öffnung verfangen, Lea zog und hebelte, es knirschte und splitterte, hilflose Wut verformte ihre Züge zu einer Fratze, jetzt war die Geige wieder frei, da riß sie sie abermals hoch, und jetzt knallte sie mit dem Steg auf die Metallspitze, die Saiten sirrten und summten, der Steg war zerborsten, das Metall hatte sich in eines der f -Löcher gebohrt und es aufgerissen.
Ein Mann in Kellnerjacke trat auf sie zu und wollte sie aufhalten. Er war der erste, der die allgemeine Lähmung überwand. Ich kann es mir nicht verzeihen, daß nicht ich als erster bei ihr war. Sie hatte die Geige wieder frei bekommen und schwang sie dem Mann wie eine Waffe entgegen. Er wich zurück und ließ die Arme hängen. Dann fuhr Lea mit dem Werk der Zerstörung fort, immer wieder ließ sie die kaputte Geige auf das Metall sausen, von vorne und
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