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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Garderobe hatte er die Amati angesehen und gewußt: nie wieder .
    Dort oben, über den Wolken, hatte Van Vliet plötzlich verstanden, daß diese Angst seine Tochter auf eine Weise mit Lévy verbunden hatte, die seine eigene Eifersucht lächerlich und schäbig aussehen ließ. Es war die Solidarität derer gewesen, die wissen, daß der Verlust von Gedächtnis und Selbstvertrauen sie unter dem grellen Scheinwerferlicht, aus dem inneren Dunkel heraus, jederzeit anspringen kann. Jetzt begriff der Vater plötzlich auch, wie bedeutungsschwer das Geschenk der Amati gewesen war: Lévy hatte Lea die Geige geschenkt, um jenes gefährliche Dunkel in ihr für immer zu versiegeln; und auch, damit sie aus dieser versiegelten Gewißheit heraus in unantastbarer, unzerstörbarer Sicherheit seine, Lévys Töne, die damals einfach abgebrochen und von der inneren Leere verschluckt worden waren, weiterspinnen und so zur Heilung der damaligen Verwundung beitragen möge. Und dann hatte sie dieses Instrument, das soviel Schmerz und Hoffnung in sich barg, vor seinen Augen zerschlagen wollen!
    Van Vliet nahm ihre kalten, feuchten Hände in die seinen, seit langem zum ersten Mal. Dabei dachte er an die angstvollen Tage und Nächte, die auf den Ausbruch des Ekzems gefolgt waren. Es war alles viel zuviel für sie, ganz einfach zuviel. Als sie in die Ankunftshalle hinaustraten, wollte er ihr vorschlagen, das Konzert abzusagen und per Schiff und Bahn nach Hause zu fahren. Doch da stand schon der Chauffeur.
    »Warum habe ich ihn nicht einfach weggeschickt!« sagte Van Vliet. »Einfach weggeschickt!«
    Die Dämmerung hatte eingesetzt. Ob ich Licht machen solle, fragte ich. Van Vliet schüttelte den Kopf. Er wollte kein Licht auf seinem Gesicht, wenn er nun von der Katastrophe sprach, die mir, als ich sie später vor Augen hatte, wie die Klimax einer Tragödie vorkam, auf die alles, was ich bisher gehört hatte, mit eherner, unbeugsamer Zwangsläufigkeit zulief.
    »Als ich im Dunkel des Zuschauerraums saß, wünschte ich, Lea hätte im Flugzeug nicht über den Zusammenbruch von Lévys Gedächtnis gesprochen. Denn nun wartete ich jeden Moment auf den ihren, mein Blick hing an ihren Zügen, ihren Augen, stets bereit, Vorboten zu erkennen. Es war ein Violinkonzert von Mozart, sie wollte weg von der Festlegung auf Bach. Sie hatte inzwischen ein solches Gefühl für die Guarneri entwickelt, daß die Töne noch eine ganze Kategorie voller und zwingender klangen als damals im Treppenhaus. Die Zeitungen hatten über die del Gesù geschrieben, eine von ihnen hatte einen ganzen Essay darüber gebracht, in dem auch von Paganini und Il Cannone die Rede war. Ich meine, die ehrfurchtsvolle Stille der Zuhörer war noch ein bißchen größer als sonst, und der Applaus wollte nicht enden.
    Wie immer störte mich das Vorhersehbare, Gestanzte an der Art, wie Lea die Ovationen entgegennahm. Doch da war noch etwas anderes, und ich glaube, ich bin darüber tief im Inneren erschrocken, ohne es zu merken: Leas Bewegungen beim Kommen und Gehen auf der Bühne hatten nicht ihre gewohnte Flüssigkeit, überhaupt flossen sie nicht so, wie menschliche Bewegungen gewöhnlich fließen. Auch waren sie nicht bloß zähflüssig und verzögert. Vielmehr haftete ihnen etwas Ruckartiges an, etwas Geschobenes, ein Staccato, unterbrochen durch winzige Hiate der Bewegungslosigkeit. Es erinnerte mich an die Bewegungsprobleme bei Robotern, die ich aus der Forschung von Kollegen kannte. Aber es war meine Tochter !«
    Es war, als würde sich das stille Entsetzen, das er damals gar nicht richtig bemerkt hatte, erst jetzt, mit einer Verzögerung von Jahren, richtig entfalten. Van Vliets Stimme veränderte sich und bekam die Rauheit einer menschlichen Stimme, in der sich die kochende Lava der Gefühle verrät. Und wenn ich an die Erzählung der nächsten Stunde denke, dann höre ich diese Rauheit, die besser als alle Tränen den Schmerz zum Ausdruck brachte, der seine Seele versengt hatte.
    »Was die Feier nach dem Konzert betrifft, erinnere ich mich nur an weniges. Leas Bewegungen waren wieder normal, so daß ich das frühere Erschrecken fast vergaß. Bis ich den abgespreizten kleinen Finger sah, als sie die Tasse nahm. Ich weiß nicht, wie ich es begründen soll, aber es war nicht das affektierte Abspreizen im feinen bürgerlichen Salon, beim Nachmittagstee. Eher war es wie eine fehlgeleitete, zwecklose Bewegung, ein nervlicher Irrläufer. Ich ging auf die Toilette und schaufelte kaltes Wasser

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