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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ins Gesicht. Doch statt daß das Wasser die Beobachtung wegwischte, kam die Erinnerung an einen mißlungenen Triller während des Konzerts. Triller waren ja Leas Schwäche, und beim einen hatte es einen Moment gegeben, wo es war, als machte der Finger bizarre, unkontrollierbare Bewegungen. Ich preßte die Stirn an die Wand, bis es weh tat. Ich mußte diese verdammte Hysterie loswerden!«
    Van Vliet sank in sich zusammen, die Rauheit verschwand aus der Stimme. »Wenn es doch Hysterie gewesen wäre! Eine unsinnige, grundlose Aufregung!« sagte er leise.
    Noch etwas anderes war ihm beim Essen aufgefallen: Leas Gereiztheit. »Sie war ja in letzter Zeit oft gereizt gewesen, vor allem in der Zeit nach dem Bruch mit Lévy. Doch was ich jetzt sah und spürte, war anders, umfassender und von körperlicher Aufdringlichkeit: als brenne sie.« Auch im Wagen, der sie zum Hotel brachte, spürte er dieses Brennen, diese unterdrückte Wut, die aus ihr herausdrängte wie Schweiß.
    »Sie war gegen mich gerichtet und auch nicht, verstehst du, verstehst du ?« sagte er.
    Die beiden letzten Worte waren wie ein rauher Schrei. Es kam mir vor, als versuchte er mit Jahren der Verspätung, einen Teil von Leas Wut an mich weiterzugeben, damit sie aufhöre, ihn zu würgen. Gleichzeitig war das du wie der letzte, heisere Hilfeschrei von einem, den die unbarmherzige Strömung unwiderruflich hinaustreibt.
    Gegen mich gerichtet und auch nicht – das war die Formel für seine tiefste Verzweiflung, für Schuld und Einsamkeit, die eine schreckliche, eine tödliche Verbindung eingegangen waren. Und auch nicht – man spürte, wie er mit der Logik und Unlogik kämpfte, ein großer, schwerer Buster Keaton, der niemanden mehr zum Lachen brachte. Er sagte die Formel nur ein einziges Mal, aber ich hörte und höre noch das tausendfache Echo, das die Worte in ihm hatten. Sie waren die Melodie, die seit Stockholm alles andere übertönte, einfach alles. Ein Gedanke, der nie schwieg, am Tag nicht und auch nicht in der Nacht. Ein Gefühl, in das sich alles eingeschrieben hatte, was nun geschah.
    »Ob sie etwas für ihn spielen würde, nur ein paar Takte, fragte der Angestellte am Empfang des Hotels; er habe ja leider nicht dabeisein können. Er hatte einen unnötig geraden Scheitel und trug eine Brille mit häßlichem Gestell, ein linkischer Junge, der sich sicher seit Stunden auf diese Bitte vorbereitet hatte. Vielleicht, wenn er nicht … Aber nein, ich muß aufhören, mir etwas vorzumachen. Sonst wäre es später geschehen. Es war in ihr – was immer es war, ja, was immer es war. Wenn ich denke, daß sie es während des Konzerts getan hätte … Wie oft habe ich seither davon geträumt! Der Traum hat in mir gewütet, hat alles verbrannt und niedergewalzt, ich bin wie ausgehöhlt.
    Was ich in dem Traum stets spüre: die Kühle der gußeisernen Spitze auf dem Pfosten, mit dem das Treppengeländer unten abschloß. Schon bei der Ankunft hatte ich das körnige Metall berührt und gedacht: wie oben an einer Treppe in die Pariser Métro. Jetzt fiel mein Blick wieder auf die metallene Spitze, die wie der Kopf einer gewundenen Schlange aus einem konischen Aufbau von Metallwülsten herauswuchs. Und von nun an, verstehen Sie, weiß ich nicht mehr zwischen echter Erinnerung und inneren Bildern zu unterscheiden, die manipuliert und verformt sind, wer weiß, durch welche Kräfte. Die Metallspitze kommt mir, wenn ich die Augen schließe, mit der Heftigkeit eines rasenden Zooms entgegen. Dabei habe ich das Gefühl, ihr das Unheil schon in dem Moment angesehen zu haben, als Lea zögernd und mit unwirschem Gesicht den Geigenkasten öffnete, um der Bitte des Jungen zu entsprechen. Scheu trat er zu ihr, um die berühmte Geige aus der Nähe zu sehen. Lea ließ sie nicht los, aber er durfte über den Lack streichen. Inzwischen waren noch andere Angestellte gekommen, und auch ein paar Gäste standen erwartungsvoll in der Halle. Lea stimmte kurz, es waren nachlässige Bewegungen, Routine ohne Sorgfalt. Ich dachte, sie würde dort, mitten in der Halle, zu spielen beginnen. Doch es kam anders, und die folgenden Minuten sind in mir wie ein gedehnter Film, gedehnt bis zum Zerreißen. Einmal habe ich geträumt, ich würde ihn mir aus dem Kopf schneiden, diesen Film. Wenn ich den Kopf dabei verlöre – es wäre immer noch besser, als den Film immer wieder ansehen zu müssen.
    Lea ging zur Treppe, hob das lange Kleid an, um nicht zu stolpern, und blieb auf der dritten Stufe stehen,

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