Leander und die Stille der Koje (German Edition)
kalt gewesen, Winter eben, und er hatte sehr viel Energie gebraucht, um zu sich selbst zu finden. Verdammt, was war er damals fertig gewesen! Auf der Suche nach der Wahrheit über seinen Großvater und seine eigene Familiengeschichte hatte er begriffen, dass er während der letzten vierzig Jahre völlig falschen Idealen und Zielen nachgelaufen war. Er hatte Forderungen erfüllt, die nicht seine eigenen gewesen waren und eigentlich seiner inneren Struktur zuwiderliefen. Kein Wunder also, dass er krank geworden war. Niemals zuvor hatte er sich die Frage gestellt, ob die vorgegebenen Bahnen auch tatsächlich befahren werden mussten. Natürlich mussten sie das nicht, vorausgesetzt man hatte eine Alternative. Mit dem Tod seines Großvaters hatte sich dann dank des üppigen Erbes die große Chance geboten, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Das war eine Stabübergabe im rechten Moment gewesen, vielleicht sogar im letzten.
Lena hatte zunächst Mühe gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie von nun an die meiste Zeit des Jahres getrennt leben würden. Inka und den Kindern hingegen war das vollkommen egal gewesen, was Leander wiederum einen Stich versetzt hatte. Er würde noch einige Zeit brauchen, um den Zeitpunkt nachvollziehen zu können, an dem sie sich so gründlich verloren hatten. Vor allem sein Verhältnis zu seinem Sohn Hanno, der Rechtsanwalt werden wollte, machte ihm zu schaffen, denn es wies große Parallelen auf zu dem Verhältnis, das Leanders Vater Bjarne zu dessen Vater Hinnerk gehabt hatte. Aber auch seine Tochter Pia, die in Kiel Ozeanografie studierte, hatte ihm schon so manche schlaflose Nacht bereitet. Sie ähnelte Inka so sehr, dass sich der Hass ihrer Mutter auf ihren Vater quasi eins zu eins übertragen zu haben schien. Leanders anfängliche Hoffnung, das schon wieder geradebiegen zu können, hatte sich bislang nicht erfüllt. Die kurzen Telefonate mit seinen Kindern waren allesamt unerfreulich verlaufen.
Wie konnte man im Zustand abgerissener Kommunikation seinen Kindern erklären, warum man sich so hatte verhalten müssen, wie man sich verhalten hatte? Dafür waren Gespräche nötig, lange Gespräche und vis-à-vis, nicht am Telefon. Solche Gespräche gab es aber nicht mehr zwischen Leander, seiner Frau und seinen Kindern.
Er schlug die Augen auf und blickte auf das Wasser des kleinen Teiches. Auf der glatten Oberfläche las er im Spiegelbild der Mühle die Worte Venti Amica , nur auf dem Kopf. Er hob den Blick, so dass er beide betrachten konnte, Original und Spiegelbild. Trotz des abgebrochenen Flügels wirkte die Mühle stattlich. Als ein leichter Windhauch aufkam, bekam das Spiegelbild ein Eigenleben, entfernte sich die Kopie vom Original. Je stärker der Wind wurde, desto mehr verwischte sich das Bild, das eben noch so klar und deutlich gewesen war. Wind of change, dachte Leander. Der Wind des Wechsels, der wechselhaften Geschichte, war in der Lage, scheinbare Übereinstimmungen durcheinanderzubringen, Unterschiede deutlich werden zu lassen. Kleine Jungen sind die Abbilder ihrer Väter – bis die Pubertät kommt, dann entwickeln sie eine eigene Richtung. Und wenn schon die Pubertät derartige Planänderungen herbeiführen kann, wie heftig schlagen dann geschichtliche Ereignisse ins Kontor?
Die Protestbewegung von 1968 hatte Leanders Vater Bjarne eine Richtung gegeben, die dessen Vater Heinrich niemals vorhergesehen hatte. War Bjarnes Weg automatisch der richtige gewesen, nur weil er moderner war, emotionaler? War Heinrich Leander automatisch verpflichtet gewesen, diesen Weg mitzugehen oder zumindest zu akzeptieren, nur weil der, der ihn einschlug, sein Sohn war? Wann hörte die Selbstverleugnung auf, die mit der Geburt der Kinder begann? Hatte ein Vater kein Eigenleben mehr, stand er nur noch in der Verantwortung für seine Kinder?
Weshalb, verdammt noch mal, musste Leander ununterbrochen dafür sorgen, dass seine Kinder ein gutes Leben hatten? Hatte er nicht auch ein Recht auf ein eigenes? Schließlich war der Umzug auf die Insel seine Rettung gewesen. Wer weiß, wie lange er sonst noch durchgehalten hätte. In einem Jahr vielleicht hätte sich der Deckel über seinem Sarg geschlossen, und dann hätten sie an seinem Grab gestanden – Inka, Hanno und Pia. Sicher, sie hätten Tränen vergossen, aber wie lange? Sie hätten ihm die Schuld selbst zugewiesen – aus ihrer Sicht durchaus verständlich. Sie hatten längst jeder ihr eigenes Leben, in das sie zurückgekehrt
Weitere Kostenlose Bücher