Leander und die Stille der Koje (German Edition)
Hähnchen in Aspik und zwei Scheiben Mortadella, mehr brauchte er für sich alleine nicht. Wie übersichtlich sich sein Leben gestaltete, seit er allein wohnte! Er erinnerte sich an die Klagen seiner Frau Inka, die nie wusste, was sie vom Metzger holen sollte und vor allem wie viel, denn bei den beiden Kindern konnte man einfach nicht einkalkulieren, ob sie überhaupt frühstückten, und wenn ja, was. Das führte regelmäßig dazu, dass die schmierig gewordene Wurst weggeworfen werden musste und Inka erneut klagte, diesmal über die Schande und das zum Fenster hinausgeworfene Geld. Überhaupt hatte Inka sehr viel geklagt. Daran war auch Leander sicher nicht ganz unschuldig, denn zufrieden war wohl keiner mit dem Alltag in der Familie gewesen. Aber alle hatten sich immer nur auf sich selbst und ihre Ansprüche konzentriert, Leander noch dazu über Gebühr auf seine Arbeit.
Vor seinem Haus in der Wilhelmstraße steckte der Insel-Bote im Zeitungshalter des Briefkastens. Leander zog ihn heraus und betrat das Fischerhäuschen.
Nach dem Frühstück überlegte er kurz, ob er die Zeitung in seinem frisch gerodeten Garten lesen sollte, entschied sich aber dagegen. Dort wurde er nur mit der Tatsache konfrontiert, dass er eigentlich mit der Gartenarbeit hätte fortfahren müssen, und dazu hatte er schlicht zu viel Muskelkater und zu wenig Lust. Außerdem war die Gefahr zu groß, dass Frau Husen sich wieder seiner Arbeitsmoral annahm. Also klemmte er sich die Zeitung unter den Arm und ging zum Park an der Mühle in der Mühlenstraße. Dieses Kleinod hatte ein Künstler angelegt, und zwar nach Kriterien, die so esoterisch wie wirkungsvoll waren. Alles im Park, angefangen bei dem Teich und seiner ihn umgebenden Bepflanzung, über den Brunnen, der aus vier nach den Himmelsrichtungen ausgerichteten gebogenen Rohren Wasser spendete, bis zu dem alles überragenden Storchennest, war nach energetischen Gesichtspunkten gestaltet und sollte den Besuchern Ruhe schenken und die Gelegenheit, ihren Energiehaushalt wieder in Ordnung zu bringen. Leander jedenfalls konnte hier stundenlang auf einer der Bänke sitzen und lesen oder einfach nur die Libellen beobachten, wie sie einzeln oder in Form eines Paarungs-Rades über den Teich surrten – über sich das Klappern der Störche auf ihrem Nest, um sich herum nur Frieden und Stille.
Er betrat den Bereich des Parks, der nach Märchenmotiven gestaltet war, und ließ sich auf der schmiedeeisernen Bank nieder. Die Windmühle auf der dem Park gegenüber gelegenen Straßenseite, ein wunderschön erhaltener Galerieholländer, der von Rechtsanwalt Petersen bewohnt wurde, spiegelte sich vollständig auf der glatten Wasseroberfläche zwischen den Seerosen. Nur der Flügel, dessen Stummel jetzt unten rechts feststand, war bei einem der letzten Stürme zum größten Teil abgebrochen. Leander hoffte, dass Petersen genügend Sinn für Geschichte und für Ästhetik hatte, um ihn wieder reparieren zu lassen, auch wenn das eine wenig Gewinn versprechende Investition wäre.
Über seinem Kopf hob ein lautes Klappern an. Als Leander den Blick hob, sah er zwei Störche auf dem Nest sitzen, das hoch oben auf einer Stange thronte. Die Störche gehörten zum Stadtbild Wyks. Ständig sah man sie in der Luft, auf Hausdächern, auf den umliegenden Wiesen oder bei Ebbe am Strand, wo sie auf Nahrungssuche durch die Priele stolzierten. An einem Abend hatte Leander dreiundzwanzig gezählt, aber es konnten auch mehr sein, zumal sie sich jedes Jahr dank des Schutzes, der ihnen in Wyk gewährt wurde, vermehrten.
Die Sonne hatte bereits eine erstaunliche Kraft, so dass Leander froh über den Schatten war, der auf eine Hälfte der Bank fiel. Er entfaltete seine Zeitung und informierte sich über die anstehenden Festlichkeiten anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Stadt. Die entscheidende Woche stand kurz bevor. Neben einem Hafenfest mit großem Höhenfeuerwerk waren Aktionen wie der Bau eines Leuchtturms aus Sand an der Promenade geplant, der sogar ein funktionstüchtiges Leuchtfeuer erhalten sollte. Außerdem wurde ein Open-Air-Konzert der Band Stanfour angekündigt, deren Gründer, die Brüder Rethwisch, von der Insel kamen. Leander beschloss, dies zum Anlass zu nehmen, seine Freundin Lena wieder einmal nach Föhr zu locken.
Da der Insel-Bote sonst nichts Interessantes zu berichten hatte, schlug er die Zeitung zu und schloss die Augen. Er erinnerte sich an seine ersten Tage und Wochen hier auf der Insel. Es war
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