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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wagner
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aufzuraffen. An nicht so guten Tagen bewege ich mich in Halbtrance, an schlechten gehe ich gleich nach dem Aufstehen wieder ins Bett und sehe die Welt halbverschleiert durch meine Vorstellung tanzen.

35
    Ein Arzt kommt ins Zimmer, einer, der mich noch nicht kennt und zum ersten Mal untersucht. Er wundert sich, daß ich so klar mit ihm spreche, andere Patienten, sagt er, seien bei einem vergleichbar hohen Ammoniakspiegel sehr verwirrt. Bin ich ja auch, denke ich, ich kann das nur besser verbergen, nach dreiundzwanzig, fast vierundzwanzig Jahren habe ich halt ein wenig Übung darin, ich komme mit meiner Verwirrung zurecht, habe mich an sie gewöhnt, aber, wer weiß, vielleicht bin ich ja viel verwirrter, als ich es für möglich halte? Vielleicht ist alles gar nicht, wie ich meine, daß es ist? Wer weiß, wohin meine Wahrnehmung sich verschoben hat. Welche Wahrnehmung wäre denn die echte? Gibt es die? Ist das, was ich sehe und höre und fühle und denke, gar nicht die Wirklichkeit? Ist es vielleicht ganz anders? Sehe ich alles biochemisch getönt? Verfärbt? Passiert das alles um mich herum überhaupt?
    Eine gesunde Leber, so erklärt der Arzt es mir, ist dafür verantwortlich, Ammoniak abzubauen. Ist zuviel Ammoniak im Blut, wird der Körper müde. Und denkt sich seltsame Sachen aus.
    Stimmt, ich bin müde. Immer bin ich müde. Ich bin so müde, gegen diese Müdigkeit hilft kein Schlaf. Ich wohne jetzt in Lalaland, es gefällt mir, schön ist es da, angenehm, alles Unangenehme ist ausgeblendet. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin, und weiß nicht mehr, wo ich eben noch war, ich komme in ein Zimmer und weiß nicht mehr, was ich da wollte. Oder ich denke, ganz klar, so ist es, der Gedanke, bilde ich mir ein, will ausgesprochen werden, ich kann ihn dann aber nicht aussprechen, er entpuppt sich als ein diffuses Gefühl, das sich nicht in Laute und Töne verwandeln läßt. Manchmal muß ich mir alles, was ich sagen möchte, als geschriebenes Wort vorstellen, um es auszusprechen. Manchmal schreibe ich es dann tatsächlich auf, ich habe ja ein Notizbuch, wie aber war noch mal der Gedanke? Schon ist er wieder weg. Abgerutscht. Versunken. Hineingeplumpst in die Vergessenheit. Oft stammle ich vor mich hin, weiß nicht mehr, worum es ging, versinke. Weck mich doch bitte, hol mich hier raus.
    Dem Arzt kann ich das nicht erklären. Ich versuche es trotzdem, versuche, ihm zu beschreiben, wie diese Selbstvergiftung sich anfühlt, dieser Schleier über allem, diese Verschiebung, diese Phasenverschiebung, gelegentlich ist es zum Beispiel so, daß ich Menschen die Lippen bewegen sehe, ihre Stimme aber erst viel später höre, als sei die Tonspur der Wirklichkeit verrutscht. Ich versuche, das zu erklären, ich höre mich sprechen und staune wieder einmal darüber, wie seltsam es klingt, wenn ich etwas sage, ich möchte lachen, so seltsam klingt es, was sind denn das für Laute? Diese Laute sollen etwas bedeuten? Wie seltsam es ist, die eigene Stimme zu hören, wie sonderbar.
    Bin ich der, der ich bin, überhaupt nur durch die schleichende Vergiftung? Würde ich mich ohne Ammoniak vielleicht ganz anders anhören? Oder liegt es an den Medikamenten? Bin ich der, der ich zu sein glaube, nur durch die Medikamente? Heißt es nicht: Cortison macht Depression? Sind mein Fühlen, meine Wahrnehmung chemisch induziert? Bin ich vielleicht gar nicht der Mensch, der ich zu sein glaube, weil die Medikamente, die ich schon so lange, seit so vielen Jahren nehme, mich zu einem anderen machen? Ist das, was ich fühle und zu sein glaube, nur das Ergebnis einer Krankheit? Ein Krankheitszustand? Hat meine Traurigkeit ganz einfach chemische Gründe, bestimmt die Biochemie meines Körpers die Gefühle?

36
    Als der Arzt das Zimmer verlassen hat, stehe ich auf, wanke zum Schrank, suche Kleider, ziehe mich an und gehe in die Bibliothek auf dem Klinikgelände. Ich kenne diese Bibliothek, ich bin schon früher manchmal dort gewesen. Ich schließe meinen Mantel in einem der Schließfächer ein, gehe in den hellen, weißen Lesesaal, wähle im Freihandbereich ein paar medizinische Lehrbücher, schaue unter den Stichwörtern Hepar und Leber nach und fange an zu lesen. Ich lese, daß die Leber Proteine produziert und Energie zur Verfügung stellt, Glykogen und Vitamine speichert, bei der Verdauung von Fetten hilft, giftige Substanzen beseitigt, die Blutgerinnung reguliert und Infektionen bekämpft – der Leber können fast fünfhundert Aufgaben zugeordnet werden, ich

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