Leben (German Edition)
zugleich. Sie hat die amorphe Topographie eines unbekannten Planeten. Leider bin ich viel zu müde, ihn zu erforschen. Ich schlafe lieber ein.
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Ich bin viel zu müde. Geht nicht. Zu müde.
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Das Kind ist nie müde, bestreitet immer, müde zu sein, ja es versucht, tatsächliche Müdigkeit zu widerlegen. Je länger es aufbleibt, desto aufgedrehter ist es, bis diese Aufgedrehtheit in Übermüdung kippt.
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Die angenehme chemische Müdigkeit, die schöne Propofolmüdigkeit, ich könnte mich daran gewöhnen. Mit Propofol konnte Michael Jackson schlafen. Jetzt schläft er für immer.
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Die Lebensmüdigkeit: einfach nicht mehr wollen. Kommt in Wellen. Kommt immer wieder. Kommt auch zu mir.
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Wie sonderbar, daß ich dann doch mal ausgeschlafen und nicht müde bin – weil ich irgendwann einschlafen konnte. Woran ich mich natürlich nicht erinnern kann.
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Warum bin ich so müde? Warum werde ich nicht wach? Warum möchte ich gleich nach dem Aufstehen wieder schlafen? Nur weil Winter ist und keine Blätter an den Bäumen hängen? Ist das mein Winterschlaf-Gen?
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Warum macht der Mensch keinen Winterschlaf? Weil er sich nicht genug anfressen kann, um zwei, drei Monate durchzuschlafen? Wäre doch schön, im Dezember einzuschlafen und Mitte März, die Forsythien blühen schon, wieder aufzuwachen.
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Zugvögel verzichten oft ganz auf Schlaf und fliegen die Nächte durch.
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Oder schlafen Vögel im Fliegen? Sie schließen meist nur ein Auge, das andere beobachtet weiter die Umgebung. Einseitiger Schlaf soll für die ruhende Gehirnhälfte nicht weniger erholsam sein als tiefer Nachtschlaf.
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Gut wäre es, wenn auch der Mensch nur eine seiner beiden Hirnhälften schlafen lassen könnte. Zum Fernsehen und für viele andere Tätigkeiten müßte eine Hirnhälfte doch reichen.
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Im Sessel sitzen und vor sich hin starren. Tristissima, die Marinade, Müdigkeit in einer anderen Tonart.
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Müdigkeit vereinzelt, müde bin ich ganz für mich.
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Sex macht auch müde. Postkoitales Einschlafen ist einfach, aber nicht immer erwünscht.
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Und dann, trotz der Müdigkeit, manchmal ein Einfall. Stimmt es am Ende, daß Müdigkeit inspiriert? Ich bin mir da nicht so sicher.
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Sehr müde bin ich milde. Müde habe ich ein weiches Herz.
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Die Müdigkeit, wer hat das bloß gesagt, ist der Schmerz der Leber.
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Ich sitze endlich beim Frisör, die langen Haare werden abgeschnitten, und ich merke, daß ich gar nicht mehr so müde bin. Ich weiß, woran das liegt.
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Schnee
Die ausführliche Anamnese des Patienten dürfen wir freundlicherweise als gut bekannt voraussetzen. Herr W. stellte sich in unserer Poliklinik mit Bauchkrämpfen bei immunsuppressiver Therapie vor. Der virologische Befund war CMV-positiv mit 7/200000 Zellen. Wir begannen daher die virostatische Therapie mit Cymeven i.v. und führten eine Kontrollkoloskopie durch, die den Verdacht einer CMV-Colitis bestätigte.
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Das Zimmer hat mich gleich wiedererkannt. Das Bett, die Lampe, der Nachtschrank, das Fenster mit seiner Aussicht, sie alle flüstern: Da bist du ja wieder, endlich zurück aus der Reha, wieder bei uns.
Es gibt Komplikationen: Ich kann und will nichts essen, ich kann nichts trinken, ich hänge am Tropf. Das normalerweise harmlose, bei geschwächtem Immunsystem jedoch nicht ungefährliche Cytomegalo-Virus ist der Grund. Ich bekomme morgens und abends Injektionen, ein stark alkalisches Medikament, das die Gefäße angreift. Immer wieder muß ich gestochen werden, die Einstiche ziehen sich in roter Doppelreihe über beide Arme, schließlich suchen die Ärzte Venen an den Füßen, ich fühle mich perforiert. Mir unter die Zunge zu spritzen, wie Julia es machte, als sie ein Junkie war, auf die Idee kommen die Ärzte nicht. Zum Glück. Ich behalte diese Möglichkeit für mich.
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Alles tut weh, ich habe schlechte Laune, ich will nicht mehr. Selbst die Stimme meiner Mutter mit ihrem stell dich nicht so an ist ausnahmsweise nicht zu hören.
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Ich blättere in der Zeitung und lese die Geschichte des Vitangelo Bini, eines pensionierten italienischen Polizisten, der seine Frau im Krankenhaus besucht und dort aus Mitleid durch zwei Handtücher hindurch erschießt. Zwei Schüsse in den Kopf, zwei in die Brust. Zeugen sagten aus, er sei wie immer ruhig und freundlich gewesen, als er ins Krankenzimmer kam – ihnen sei bloß aufgefallen, daß er eine kleine Reisetasche dabeihatte. Er habe sich ans Bett seiner Frau gesetzt, ihr den
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