Leben (German Edition)
über mich zu wissen, mir jedoch war das gar nicht unangenehm, im Gegenteil. Sie erzählte, daß sie in wenigen Tagen in die USA, in irgendeine Stadt im mittleren Westen, fliegen werde, um dort drei Monate in einem Krankenhaus zu arbeiten. Es kam noch, erinnere ich mich, zu einem Abschiedsausflug mit ihren Freunden in ein Kaff in Brandenburg, wir küßten uns hinter einer großen roten Backsteinkirche an einem See. Später hielt ich immer nach ihr Ausschau, bin ihr aber nie wieder begegnet.
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Eine Schwester betritt das Zimmer, fühlt mir den Puls, mißt meinen Blutdruck. Mir kommt es vor, als gehöre mein Körper ihr. Ich überlege, wer im Laufe meines Lebens so alles an meinem Körper herumgefummelt hat: meine Mutter, mein Vater, alle Ärzte und Zahnärzte, mit denen ich zu tun hatte, Friseure und Friseusen, die, mit denen ich ins Bett gegangen bin, Personen des uneingeschränkten Vertrauens, die mir die Pickel auf dem Rücken ausgedrückt haben, neben denen ich schlafe, die Physiotherapeutin, die mir die Schulter massiert, das Kind, mit dem ich auf dem Teppich herumbalge. Das war’s dann aber auch. Die meiste Zeit hatte ich mich ganz für mich allein. Der Körper aber, der hier im Krankenhaus behandelt wird, ist nicht mehr meiner. Ich habe ihn abgegeben, ich habe unterschrieben, ich lasse andere machen.
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Auf Station bin ich der Jüngste, anderswo hat das aufgehört. Meine Bettnachbarn sind doppelt so alt wie ich, der Getränkehändler könnte mein Vater sein. Und für die Schwestern bin ich, das höre ich sonst nicht mehr oft, der junge Mann. Das aber, denke ich, ist wahrscheinlich bloß Berliner Ironie.
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Mit fünfzehn, sechzehn war es eine meiner Lieblingsphantasien, mir meine eigene Beerdigung vorzustellen. Ich stellte mir vor, einen Bade- oder Bootsunfall zu inszenieren und zu verschwinden, der See, in dem ich ertrunken bin, so sollte es aussehen, gibt meine Leiche nicht mehr her. Schließlich werde ich nach vergeblicher Suche für tot erklärt, es heißt, meine Leiche liege in der tiefen Schlick- und Sumpfschicht am Grund des Laacher Sees. Während ich mich über Spanien nach Lateinamerika absetze, möchte ich, ein Widerspruch dieser Phantasie, unbedingt bei meiner Beerdigung dabeisein und aus einiger Entfernung und gut verkleidet beobachten, wie mein leerer Sarg beigesetzt wird.
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Ich war sechzehn, vielleicht auch siebzehn, da behauptete B., ich hätte meine Medikamente nicht genommen, anders lasse sich die Verschlechterung der Werte – und Werte waren ja schon immer alles, sie waren und sind mein Leben – nicht erklären. Das stimmt nicht, ich habe die Medikamente sehr wohl genommen, sagte ich, aber so ganz glaubte ich mir meine Beteuerungen selbst nicht. Vielleicht hatte ich hier und da mal eine Tablette weggelassen? Und manchmal eine vergessen? Oder irrtümlich gedacht, sie schon genommen zu haben? Zuweilen habe ich vielleicht absichtlich die eine oder andere Tablette weggelassen, weil vom Cortison, Handelsname Urbason, schluckte ich es nicht schnell genug, immer dieser bittere Nachgeschmack im Mund blieb. Kann schon sein, daß ich mal eine weniger genommen oder nur eine halbe Tablette geschluckt habe, obwohl ich eine ganze hätte nehmen müssen, ich erinnere mich nicht genau, erinnere mich aber, daß ich damals oft lieber tot sein wollte als lebendig, weil ich mir das Totsein viel leichter vorstellen konnte als das Leben, dieses Leben, das vielleicht, vielleicht aber auch nicht, noch vor mir lag. Ich hatte ja keine Ahnung, was ich damit anfangen sollte. Und wo. Und mit wem. So viele, viel zu viele Möglichkeiten. Ich konnte mir viel leichter vorstellen, nicht mehr dazusein, als irgend etwas zu werden. Zu leben ist ja viel komplizierter, als tot zu sein.
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Vielleicht bin ich bloß hier, damit mir alles wieder einfällt? Ich habe ja alle Zeit der Welt.
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Ich bin dann mal von einem Baukran gesprungen, neunzig Meter in die Tiefe, hatte an den Füßen allerdings ein Gummiseil. Erst Katja, die damals meine Freundin war, dann ich. Wir sind wohl deshalb gesprungen, weil wir beide auf dem Absprung waren oder den Absprung suchten. Wohin Katja wollte, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur noch, daß ich genug davon hatte, mit meinem Vater im Haus meiner toten Mutter zu wohnen, ich hatte keine Lust mehr auf die Schule, keine Lust mehr auf Bonn, ich hatte keine Lust auf gar nichts, mir hätte es gefallen, wenn alles kaputtgegangen wäre, ich hätte gern beobachtet, wie die Bundesrepublik zerbricht,
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