Leben im Käfig (German Edition)
durchaus als Pluspunkt zu verbuchen war. Sie war Andreas stets nett vorgekommen, auch wenn seine Eltern sie nicht mochten. Als Musikerin und verbindliche Frau war sie ein Mensch, der nicht in die elitären Kreise der Familie von Winterfeld passte.
Musik wurde als Kunstform zwar akzeptiert, aber nicht als Beruf. Und Menschen, die freundlich auf jeden zugingen und das Herz auf der Zunge trugen, waren Margarete und Richard suspekt.
Es war ohne Frage armselig, hinter der Gardine am Fenster zu stehen, um einen Blick auf den gut aussehenden Nachbarn zu erhaschen; besonders, nachdem Andreas so furchtbar unfreundlich zu ihm gewesen war.
Das kam öfter vor, wenn ihm jemand unerwartet zu nahe trat – und so gut wie jeder Kontakt war für seinen Geschmack zu nah -, aber in diesem Fall tat es ihm zum ersten Mal seit Jahren leid.
Lächerlich oder nicht fühlte es sich gut an, dabei zuzusehen, wie Sascha mit seinem Cousin draußen spielte oder entspannt auf der Terrasse saß und las. Andreas sog die Leichtigkeit seiner Bewegungen in sich auf und bewunderte stumm die Sorglosigkeit, mit der Sascha sich draußen aufhielt.
Zumindest so lange, bis ihm wieder bewusst wurde, dass es für jeden anderen Menschen normal war, durch den Garten zu laufen und mit unbekanntem Ziel auf die Straße zu treten. Und mit diesem Bewusstsein kamen die Sehnsucht und der Schmerz, wurde die Beobachtung des aufregenden Schwarzhaarigen zur Folter.
Der positive Nebeneffekt seines neuen Interesses war, dass Andreas einen Grund hatte, zu halbwegs anständiger Zeit aus dem Bett zu kriechen. Er klebte zwar nicht den ganzen Tag hinter dem Fenster wie ein Knastbruder hinter seinen Gittern, aber es machte ihm Spaß, alle zwei oder drei Stunden neugierig zu überprüfen, ob jemand im Nachbargarten war.
* * *
Vier Tage nach ihrer ersten Begegnung saß Andreas im Schneidersitz auf dem Fußboden zwischen seinen Filmen und konnte sich nicht konzentrieren. Seine Fantasie funkte ihm permanent dazwischen und sorgte dafür, dass das Alphabet in seinem Kopf Samba tanzte.
Es war nicht schwierig, die einzelnen DVDs nach Genre zu sortieren, doch immer wieder mischte sich eine Reisedokumentation zwischen die Horrorfilme und eine Komödie mit R in die Action-Filme von A bis F. Der Star Wars -Hexalogie fehlte auf einmal der vierte Teil, der sich erst nach aufgeregter Suche zwischen Pulp Fiction und den Blues Brothers wiederfand, welche ebenfalls nicht zusammen auf einen Haufen gehörten.
„Meine Fresse“, murrte Andreas und schob die Filme von sich. „Ist ja wie im Kindergarten hier.“
Mit der grundsätzlich fehlenden Fähigkeit, Ordnung zu schaffen, hatten seine Schwierigkeiten nichts zu tun. Viel mehr mit den sinnlichen Vorstellungen, die ungefragt durch seinen Kopf sprangen. Wenn man sich alle paar Minuten fragte, ob der geschätzte Nachbar bei diesem Wetter auch einmal ohne T-Shirt im Garten auftauchen würde, fiel das Denken schwer.
Langsam stand er auf und rieb sich über die eingeschlafenen Oberschenkel, bevor er ans Fenster trat. Eine ganz und gar unmögliche Idee spukte Andreas seit dem Vortag durch den Kopf, für die sein Unterbewusstsein bereits klammheimlich Kraft ansammelte. Schützend verschränkte er die Arme vor der Brust, während er sich an die Zeit erinnerte, in welcher der Garten ihm noch keine Angst gemacht hatte. Es war früher möglich gewesen, sich draußen aufzuhalten.
Der Ausflug zum Pool am Anfang der Woche hatte eine andere Sprache gesprochen, aber Andreas wusste noch gut, wann die Panik eingesetzt hatte: erst, als er den Schatten der Villa hinter sich ließ und sich von den schützenden Mauern entfernte. Auf der Terrasse hatte er sich noch einigermaßen wohlgefühlt. Und eben diese Terrasse lag sehr dicht am Nachbargrundstück.
Woher dieser plötzliche Wunsch nach Kontakt kam, wusste er nicht. Vielleicht hing es damit zusammen, dass Sascha ihm freundlich entgegen getreten und Andreas nicht mehr daran gewöhnt war, mit unvoreingenommenen Menschen zu tun zu haben. Ivana, Dr. Schnieder und seine Eltern schlichen im Allgemeinen um ihn herum, als würden sie auf Eierschalen laufen. Sascha wusste nichts von Andreas' Schwierigkeiten. Das war eine große Erleichterung für jemanden, der stets kritisch von der Seite beäugt wurde.
Kontakt will ich ja gar nicht, dachte Andreas sich im Stillen. Nur noch einmal ein bisschen näher herankommen. Es wird auch nicht lange dauern. Ich warte einfach, bis er nach draußen kommt.
Die
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