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Leben im Käfig (German Edition)

Leben im Käfig (German Edition)

Titel: Leben im Käfig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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sein, bescherte Sascha eine Gänsehaut. Er drehte sich um und starrte in Richtung der Häuserreihen über dem Hafen.
    Wie schlimm war es wohl wirklich? Wie lange hatte Andreas keine Schule, keinen Club, keine Eisdiele, kein Geschäft, keine Tennishalle gesehen? Oder war die Wahrnehmung der Nachbarn schlicht falsch? Aber nein, das konnte Sascha sich nicht vorstellen. Klar, viele Leute redeten viel, aber meistens beinhalteten Gerüchte einen wahren Kern und damit einen Aufhänger für das Geschwätz.
    Er versuchte sich vorzustellen, was es bedeutete, sein halbes Leben in einem Gebäude gefangen zu sein – durch Krankheit oder äußere Einflüsse war an der Stelle egal. Sascha kam nicht umhin zuzugeben, dass er an Andreas' Stelle längst den Verstand verloren hätte.
    Wie ein Gefängnis ausgestattet war, war letztendlich nicht wichtig. Es kam nur darauf an, dass man es nicht verlassen durfte. Allein der Gedanke löste einen unsteten Druck in seiner Brust aus, als würde ihm die Luft zum Atmen fehlen. Eine Villa, die ein ganzes Leben ausfüllen musste. Konnte ein Mensch so existieren?
    Saschas Mitgefühl weichte die Erinnerung an ihre erste Begegnung behutsam auf. In Kombination mit seinem eigenen Dilemma entstand wie von selbst der Entschluss, Andreas noch eine Chance zu geben. Jemand wie er konnte sicher einen Freund gebrauchen. Und wenn Sascha ehrlich zu sich selbst war, ging es ihm nicht anders.
     
    Kapitel 6  
     
    Mit Andreas ging etwas Merkwürdiges vor. Seit dem unerwarteten Zusammentreffen mit dem neuen Nachbarn – und der Gardinenpredigt seitens Dr. Schnieder – waren einige Tage vergangen. Das Wochenende stand vor der Tür, aber das interessierte ihn nicht.
    Nach dem Zwischenfall mit dem Lehrer hatte Andreas sich bei seinen Eltern beklagt, was dazu geführt hatte, dass der Unterricht für eine Weile ausgesetzt worden war. Schließlich hatten alle anderen Schüler zurzeit auch Ferien.
    Wenn er keinen Unterricht hatte, kümmerte es ihn nicht, welcher Wochentag war. Er lebte eh immer dieselbe Routine; Tag ein, Tag aus.
    Früher, als er noch jünger war, hatte er seinen Rhythmus am Fernsehprogramm festgemacht. Aber aus dem Alter, in dem er stundenlang Cartoons ansah, war er heraus und was die Sender abends oder auch nachmittags an Programm anboten, beleidigte Andreas' Intelligenz. Da konzentrierte er sich lieber auf seine stetig wachsende DVD-Sammlung, deren Genuss nicht an feste Zeiten gebunden war.
    Um es auf den Punkt zu bringen, hatte er sich in den letzten Jahren hängen lassen. Er hatte geschlafen und gegessen, wann er Lust hatte. Die ganze Nacht wach zu sein und zu Bett zu gehen, wenn die Sonne aufging, war selbst im Winter normal für ihn. Es gab keinen Grund aufzustehen. Der Unterricht war kein Grund, sondern ein Ärgernis, dem man ausweichen konnte. Abgesehen davon war es kein Problem für ihn, die Nacht vor der dem Fernseher zu verbringen, anschließend direkt in die Bibliothek zu gehen und erst hinterher zu schlafen.
    Jetzt war einiges anders. Zum einen waren vor zwei Tagen nicht nur zwei Kartons mit DVDs eingetroffen – vom Klassiker über Serien bis hin zu den aktuellen Hollywood-Produktionen war alles dabei –, sondern auch ein neues Regal. Dank des zusätzlichen Stauraums wollte seine Sammlung neu sortiert und katalogisiert werden, was einige Zeit in Anspruch nahm.
    Was für andere Menschen nach einer unangenehmen, vielleicht auch überflüssigen Arbeit klang, war für Andreas ein herrlicher Spaß und Grund zur Freude. Dass dies zu einem großen Teil damit zu tun hatte, dass er sonst nie eine Aufgabe und damit auch selten Erfolgsergebnisse hatte, war ihm nicht bewusst.
    Zum anderen entwickelte er sich zum perfekten Spion. Ein Teil von ihm schämte sich dafür, aber das Auftauchen von Sascha hatte in seinem Inneren einen Mechanismus in Bewegung gesetzt.
    Mit der Zeit gewöhnte man sich an ein Dasein, wie Andreas es fristete, aber es gab Momente, in denen selbst ihm schmerzlich auffiel, was ihm fehlte; ein gleichaltriger Ansprechpartner stand ganz oben auf seiner Liste. Doch jeder gesunde Impuls nach sozialem Umgang wäre im Keim erstickt worden, wäre der Neue nicht auch auf andere Art anziehend gewesen; auf eine rein instinktive, animalische Weise.
    Mittlerweile hatte Andreas Sascha drei Mal gesehen. Glücklicherweise aß die Familie Holmes oft auf der Terrasse, sodass er einen Blick auf das Objekt seines Interesses werfen konnte.
    Was hatte Sascha gesagt? Tanja Holmes war seine Tante, was

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