Leben im Käfig (German Edition)
eine Tragödie, aber kein Geheimnis.“
„Du hast dir darüber viele Gedanken gemacht, oder?“ Gegen seinen Willen fühlte Sascha sich unbehaglich. Hatte er diesen Andreas falsch eingeschätzt? War er nur so unfreundlich gewesen, weil er neugierige Fragen fürchtete?
In Tanjas Augen blitzte besorgt auf: „Oh ja, das habe ich. Wenn ein Kind praktisch verschwindet, nicht mehr zur Schule geht und von den Eltern isoliert wird, dann denkt man eben an Dinge, an die man gerade als Mutter nicht denken will.“
„Du glaubst, dass sie ihn schlagen? Oder sogar Schlimmeres?“ Saschas Augen wurden groß und plötzlich kamen ihm seine eigenen Eltern gar nicht mehr so schrecklich vor.
„Weiß ich nicht. Ich denke nicht. Wenn sie das getan hätten, wäre er doch bestimmt weggelaufen. Er muss mittlerweile über 18 sein. Er hätte ausziehen können. Nein, alles, was ich weiß, ist, dass seine Eltern nie daheim waren, als er klein war. Er war als Kind immer so dankbar für jedes freundliche Wort. Ich kann mich gut erinnern, weil ich gerade erst hergezogen war. Er saß in einem Berg aus Spielzeug im Garten, aber niemand war bei ihm – höchstens die Haushälterin. Wenn du mich fragst, kommt er da drüben nicht gut zurecht. Er ist sehr alleine, glaube ich.“
Letzteres konnte Sascha gut nachfühlen. Auch er fühlte sich seit dem Vortag einsam, aber er war nicht so naiv zu glauben, dass seine Einsamkeit mit der des mysteriösen Jungen nebenan zu vergleichen war.
* * *
Ein moderiger Geruch stieg Sascha in die Nase; vermengt mit der sehr eigenen Note stehender Wassermassen. Windböen strichen ihm über das Gesicht und bildeten einen angenehmen Ausgleich zu der Sonne, die mit unverminderter Kraft vom Himmel brannte. Ausgerechnet mit einer schwarzen Hose bekleidet aus dem Haus zu gehen, war keine intelligente Idee gewesen, denn seine Beine brannten unter dem aufgeheizten Stoff.
Saschas erster Weg hatte ihn auf die Einkaufsmeile an der Binnenalster geführt, doch in der Wärme zwischen den einzelnen Geschäften hatte er es nicht lange ausgehalten. Deswegen hatte er die U-Bahn in Richtung Reeperbahn genommen und war die berühmte Straße der Vergnügungen eine Weile entlang gestreunt, bis er in Richtung Hafen abbog. An den Landungsbrücken angekommen hielt er überwältigt die Hand über die Augen, um die Werften mit ihren Ozeanriesen besser sehen zu können. Die Schiffe waren gewaltig, schienen viel zu majestätisch, um von den winzigen Ameisen namens Menschen geschaffen worden zu sein. Starr lagen sie vor Anker oder im Trockendock.
Die Vorstellung, dass es eine Macht geben sollte, die diese Riesen versenken konnte, schien absurd.
Mit Blick auf das Wasser schlenderte Sascha an den Landungsbrücken entlang in Richtung Speicherstadt. Auf den einzelnen Bootsanlegern sammelten sich Familien, um an einer Bootstour durch den Hafen teilzunehmen. Das flaschengrüne Museumsschiff „Rickmer Rickmers“ interessierte ihn zwar, war aber von Touristen überlaufen, sodass er verzichtete. Ihm war eh nicht nach Kultur zumute.
Drei Tage Hamburg. Angekommen war er noch nicht. Er schwankte zwischen Aufregung und Ernüchterung. Die schiere Größe der Stadt war überwältigend. Er spürte das einzigartige Flair der Hansestadt, von dem Touristen aus aller Welt schwärmten. Aber es war ein Unterschied, ob man als Besucher in eine Stadt kam oder plötzlich realisierte, dass sie sein neues Zuhause war.
Er hatte gedacht, es würde ihm leichter fallen. Welcher Jugendliche träumte nicht davon, das Elternhaus und die damit verbundenen Auseinandersetzungen hinter sich zu lassen? Eine Heimat am Puls der Zeit zu finden? Jetzt, wo es geschehen war, fühlte es sich gar nicht so glorreich an.
In Saschas Träumen von der Zukunft war er immer erst gegangen, nachdem er sein Abitur in der Tasche hatte und bereit für die Welt dort draußen war. Und auch, wenn er sich eher die Zunge abgebissen hätte als es zuzugeben, war er kein bisschen bereit. Nicht bereit, seine vertrauten Kreise hinter sich zu lassen. Er war froh, dass der Stress und Krach hinter ihm lagen, aber mit dem Druck durch seine Eltern hatte er auch seine Freunde und seinen Lebensraum verloren. Ein hoher Preis.
Und alles nur, weil er seinen eigenen Kopf hatte und an Frauen nichts Aufregendes finden konnte. Er war seiner Tante dankbar, dass sie eingegriffen und ihn zu sich eingeladen hatte. Dankbar für ihre sachliche Art, mit der sie seiner Mutter klar gemacht hatte, dass sie alle nichts davon
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