Leben im Käfig (German Edition)
deutlicher zutage treten als Tränen. Wer hätte gedacht, dass er ausgerechnet seine kleine Schwester am meisten vermissen würde? Es war nicht lange her, dass sie sich tagtäglich gestritten hatten wie Kesselflicker. Gerade in der Zeit, in der Sascha zu erhaben für kindische Spiele wurde und seine Schwester die ersten pubertären Ausläufer erreichte, hatte es zwischen ihnen dauernd geknallt.
Besser geworden war es, als Katja mit 13 ihren ersten Liebeskummer erlebte und sich von ihm trösten ließ. Bei der Gelegenheit hatte er sich ihr gegenüber geoutet. Das Teilen des Schmerzes und der Unsicherheit hatte sie einander näher gebracht, aber auch der wachsende Druck in der Familie hatte geholfen.
Umso schlechter das Verhältnis zwischen Sascha und seinen Eltern wurde, umso häufiger er sich gegen ihre Hand wehrte, umso überlegender er sich gerade seinem Vater gegenüber fühlte, umso enger rückten die Geschwister zusammen. Er vermisste Katja, weil sie sich auf seine Seite geschlagen hatte und auf ihre Weise genauso rebellierte wie er selbst.
Doch was seine Eltern anging ... es sollte ihm egal sein. Es sollte ihn nicht kümmern, dass sie nicht über ihn sprachen, ihn nicht anriefen. Er selbst hatte auch nicht zum Telefon gegriffen. Warum sollte er? Er hatte sich doch nicht daneben benommen. Sie waren es, die mit seinen Gefühlen für andere Jungen überfordert gewesen waren. Sie hatten ihn verstoßen, nicht er sie. Oder vielleicht doch.
Es war merkwürdig, sie nicht mehr in seinem Leben zu haben. Ein Teil von ihm war dankbar dafür, ein anderer fand es falsch. Er wusste schon lange, wie er tickte. Deswegen hatte er sich schon vor Jahren im Internet umgesehen, sich mit der Problematik des Coming-Outs auseinandergesetzt.
Letztendlich waren es die schlimmen Erfahrungsberichte gewesen, die ihn dazu getrieben hatten, zu schweigen. Das Verhalten seiner Eltern bewies, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Wenn sie schon aus allen Wolken fielen, wenn er 18 und damit erwachsen war, was hätten sie erst gesagt und getan, wenn er sich ihnen als Vierzehnjähriger gestellt hätte?
Aber vielleicht ging es darum gar nicht. Es hatte schon vorher Schwierigkeiten gegeben; massive Schwierigkeiten sogar. Er passte nicht in die bürgerliche Welt seiner Eltern. Vielleicht musste man diesen Umstand einfach hinnehmen. Es war nur schwer, etwas zu akzeptieren, wenn man jeden Morgen nach dem Aufwachen ein paar Sekunden brauchte, um sich zu erinnern, wo man war. Wenn man sich entwurzelt und einsam fühlte.
Sonntag Nachmittag. Nichts zu tun. Nicht liegen, sich nicht anlehnen können. Großartig. Sascha schielte in Richtung der Creme, die Tanja ihm nach seinem unfreiwilligen Sonnenbad mit einem milden Lächeln in die Hand gedrückt hatte. Hatte er Lust aufzustehen, sich damit einzureiben, sich das Oberteil zu versauen und hinterher alles an der Lehne des Stuhls abzustreifen?
Nein. Ihm war eher danach zumute, eine Horde unschuldiger Aliens in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Das entsprach eher seiner wenig rosigen Laune und hatte den Vorteil, dass er sich in der virtuellen Welt verlieren konnte.
Zwei Minuten später befand er sich bereits in der Schlacht, kämpfte um Ressourcen und wich Lava aus. Es machte Spaß, aber mit den Gedanken war er woanders. Sprachen sie wirklich nicht von ihm? Nie? Fragten sie sich nicht, ob er gut angekommen war und mit Tanja zurecht kam? Oder stimmte Katjas Vermutung und sie redeten nur über ihn, wenn sie nicht dabei war?
„Hey, Sascha.“
Das Chatfenster öffnete sich und kündigte den Beginn eines neuen Gesprächs an. Überrascht zog er eine Augenbraue hoch. Seit dem letzten Wochenende hatte er Andreas nicht mehr online gesehen, sich aber nicht viel dabei gedacht. Sie waren nicht verabredet gewesen.
„Hallo“, tippte er zurück. Er erinnerte sich daran, wie sie das letzte Mal auseinandergegangen waren, und fragte: „Alles klar bei dir?“
„Mehr oder weniger. War keine gute Woche. Und bei dir?“
Sie kannten sich nicht gut genug, als dass Sascha Andreas sein Herz ausgeschüttet hätte: „Auch mehr oder weniger.“
„Nicht so einfach, sich an ein neues Zuhause zu gewöhnen, oder?“
Milde verwundert schüttelte Sascha den Kopf und starrte auf den Bildschirm. Er wusste nicht, was er von der direkten Frage halten sollte. Schon beim letzten Mal war ihm aufgefallen, dass Andreas kein Blatt vor den Mund nahm und gelassen alles fragte, was er wissen wollte. Das passte gar nicht zu dem
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