Leben im Käfig (German Edition)
etwas gewöhnen? Sascha konnte und wollte nicht daran glauben. Aber er war zu unsicher, um etwas zu sagen. Vielleicht war es am besten, wenn sie das Thema fallen ließen. Später, später würde er vielleicht einmal genauer nachfragen.
Zwei Stunden gingen dahin, in denen sie miteinander durch das Science-Fiction-Universum zogen. Sie redeten nicht viel und wenn, dann nur über unverfängliche Dinge. Sascha brannten zwar Fragen auf der Zunge, aber er wollte es nicht übertreiben oder zu aufdringlich erscheinen. Schlimmer noch, er wollte Andreas nicht das Gefühl geben, sensationsgeil zu sein.
Abgesehen von diesem Tabuthema verstanden sie sich gut; sehr gut sogar. Sie hatten beide einen trockenen, manchmal bissigen Humor und brachten sich gegenseitig zum Lachen. Sie bewerteten Situationen auf dieselbe Weise und erwischten sich ab und an dabei, dass sie fast wortgetreu dieselben dummen Bemerkungen in den Chat hämmerten. Sascha dachte nicht mehr an seine Eltern oder sein verlorenes Zuhause. Das Medikament Andreas zeigte Wirkung.
Der Nachmittag ging in den Abend über, und bevor sie sich versahen, war es wieder spät in der Nacht. Sascha wurde erst bewusst, wie viel Zeit vergangen war, als sein Magen grollte.
„Oh Mann, ich verhungere. Tanja hat vorhin gesagt, das Essen wäre fertig. Aber ich habe irgendwie vergessen nach unten zu gehen“, schrieb er.
„Immerhin hat sie dich nicht an den Haaren nach unten gezerrt. Tanja ist cool.“
„Ich werd's ihr ausrichten. Und ja, ist sie. Sie lässt mir viel mehr Freiraum als meine Eltern.“ „Mach mich ruhig neidisch.“ Ein zwinkernder Smiley folgte.
Nachdem Sascha sich etwas zu essen aus der Küche geholt hatte, redeten sie noch eine Weile, bis ihm plötzlich etwas einfiel: „Was war gestern eigentlich bei euch los? Geburtstag? Das war ja ein riesiger Aufwand.“
„Geburtstag? Du träumst wohl. Das war eine geschäftliche Sache. Eine Party für die wichtigsten Geschäftspartner.“
Etwas nagte nach dieser Antwort an Sascha. Anfangs konnte er es nicht benennen. Es fühlte sich unbehaglich an. Eine geschäftliche Veranstaltung. Was war schon dabei? Jeder musste sehen, wie er seine Brötchen verdiente. Warum störte ihn der Gedanke daran, dass die von Winterfelds eine Party gefeiert hatten? Sie konnten tun und lassen, was sie wollten, oder?
Auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Andreas war es in der letzten Zeit nicht gut gegangen. Er war ans Haus gefesselt. Er war krank; so krank, dass er einem neuen Bekannten nicht kurz die Stadt oder auch nur die Gegend zeigen konnte. Und seine Eltern feierten eine Party?
Bevor er sich bezähmen konnte, schrieb er eilig: „Das ist ganz schön krass!“
„Wieso?“
„Na, wenn es dir nicht gut geht und du krank bist, dann brauchst du doch sicher deine Ruhe. Eine Garten-Party hilft da doch nicht“, wunderte Sascha sich.
Lange bekam er keine Antwort und er dachte schon, er hätte Andreas vor den Kopf gestoßen, zu tief gebohrt, zu viel gefragt.
„Keine Ahnung. Ist doch normal, oder?“
Nein. Sascha war kein Experte für Familienleben und hatte selbst ein angespanntes Verhältnis zu seinen Eltern. Aber weder seine Mutter noch sein Vater wären je auf die Idee kommen, ein Fest zu veranstalten, wenn es ihm oder Katja schlecht ging.
Niemals.
* * *
Er war gut. Und er brannte vor Aufregung. Was für ein Tag, was für eine Nacht. Nachdem Sascha sich ausgeloggt hatte, sprang Andreas wie ein Springteufel von seinem Schreibtisch auf und tobte durch sein Zimmer. Adrenalin peitschte durch seine Adern und ließ ihn vor positiver Anspannung vibrieren.
Der Kontakt war wieder hergestellt. Der Himmel wusste, dass es ihm schwergefallen war, diesen Schritt zu machen. Sascha hatte es ihm mit seinen neugierigen Fragen nicht leicht gemacht. Aber Andreas hatte sich dem gestellt, geantwortet und vor allen Dingen Stunden mit einem echten Menschen zugebracht, den er nett fand.
Natürlich waren auch die anderen Gestalten im Internet, mit denen er manchmal zu tun hatte, reale Personen, aber sie hatten kein Gesicht, keine Geschichte und waren für ihn eher Statisten als ernst zu nehmende Freundschaften.
Ein oder zwei Mal hatte er sich auf eine Bekanntschaft eingelassen, aber sich selten wohl dabei gefühlt. Warum? Weil er das Gefühl hatte, dass es sich dabei um Ersatzbefriedigung handelte. Immer wurde er daran erinnert, dass der neue Freund nur deswegen für ihn interessant war, weil die normalen Wege des Kennenlernens
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