Leben im Käfig (German Edition)
Bild, das Sascha von ihm hatte. Als sie sich draußen begegneten, schien Andreas unsicher und nervös. Sascha hatte den Eindruck gewonnen, dass der Nachbar ihn am liebsten schnell loswerden wollte und kein Interesse an ihm hatte. Warum stellte er jetzt so gezielte Fragen? Er überlegte kurz, bevor er schrieb: „Nein. Aber das wird mit der Zeit schon kommen. Es ist halt alles neu und ich kenne noch niemanden.“
Darauf kam eine ganze Weile keine Antwort, bevor Andreas unerwartet schrieb:
“Sorry, dass ich neulich so schnell weg war. Hatte nichts mit dir zu tun.“
Sascha fragte sich, welcher Gedankengang den Spielkameraden auf dieses Thema brachte. Was hatte er selbst geschrieben? Dass er niemanden kannte und alles neu war. Was hatte das mit neulich zu tun? Egal. Schulterzuckend schob er den Gedanken beiseite: „Schon in Ordnung. Wollen wir loslegen?“
“Nichts lieber als das.“
Innerhalb kürzester Zeit ließen sie sich vom Rausch des Spiels gefangen nehmen. Wieder funktionierten sie gut zusammen, kannten sie doch mittlerweile die Strategien des Mitspielers.
Sascha aber war mit seiner Leistung nicht zufrieden. Er war mit den Gedanken woanders. Das Gespräch mit seiner Tante kam ihm wieder in den Sinn, dazu die Bemerkung von Andreas über seine schlechte Woche. Das Mitgefühl, das ihn dazu gebracht hatte, seinem Nachbar eine zweite Chance zu geben, wurde zu unbezähmbarer Neugier. War es Andreas schlecht gegangen? Hatte er im Bett liegen müssen? Hätte er sich vielleicht über Besuch oder Ablenkung gefreut? Schwer zu sagen, solange Sascha so wenig von ihm wusste.
Zwei Spiele gingen dahin, bis er zu dem Schluss kam, dass er schlicht fragen könnte. Sie saßen sich schließlich nicht gegenüber und sahen sich in die Augen. Andreas konnte antworten oder ihn ignorieren. Außerdem stellte er ja auch direkte Fragen. Nur wie fing man es an? „Die Nachbarn reden über dich, was ist eigentlich mit dir los?“ Schlecht, ganz schlecht.
Schließlich tippte Sascha in einer Spielpause: „He, kann ich dich mal was fragen?“
„Ja“, kam es so kurz angebunden zurück, dass er um ein Haar etwa Unverfängliches geschrieben hätte. Aber er wollte nicht feige sein: „Was meinst du mit keine gute Woche ?“
„Warum fragst du?“
„Weil es mich interessiert?“ Es interessierte Sascha wirklich. Sich mit anderer Leute Sorgen auseinanderzusetzen, erschien ihm als wunderbare Abwechslung zu seinen eigenen Problemen. Aber es würde nicht leicht werden. Andreas reagierte seltsam. Das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, verstärkte sich.
Schweigen, bis auf einmal ein längerer Text über den Bildschirm flammte: “Okay, reden wir Tacheles. Ich kann mir denken, dass deine Tante dir etwas über mich erzählt hat. Ich will gar nicht genau wissen, was. Aber ja, sie hat recht. Ich bin krank. Ich möchte nicht darüber reden, aber so viel kann ich dir sagen: Es ist nicht ansteckend und ich werde nicht daran sterben.“
Die leicht aggressive Art, die Andreas an den Tag legte, ließ Sascha ahnen, dass er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Anscheinend war seine Überlegung, warum er am ersten Tag so unfreundlich gewesen war, nicht gänzlich falsch gewesen. Andreas wusste, dass man über ihn redete, und fand keinen Gefallen daran. Nachdenklich rieb Sascha über seine Oberschenkel, bevor er langsam tippte: „Das ist Mist. Nur noch eine Frage: Ist das der Grund, warum du nicht mit mir um die Häuser ziehen wolltest?“
„Das ist keine Frage des Wollens. Ich kann nicht.“
„Wie ... du kannst nicht?“
„Ich dachte, das war die letzte Frage? Egal, was soll's. Ich kann das Haus nicht verlassen.“
Das saß. Sascha zog sich zurück, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Es war eine Sache, über das Schicksal eines Menschen zu spekulieren. Von dem Betroffenen ins Gesicht gesagt zu bekommen, dass die Spekulationen Realität waren, eine ganz andere Geschichte. Das Haus nicht verlassen können? Gar nicht? Das war unbegreiflich. Wenn er nun auch noch überlegte, dass Tanja erzählt hatte, Andreas wäre seit vielen Jahren in diesem Zustand, war ihm plötzlich danach, das Fenster aufzureißen oder in den Garten zu rennen. Grauenhaft. Und gleichzeitig war Sascha klar, dass er sich nicht anmerken lassen durfte, wie schockiert er war. Wer brauchte schon Mitleid?
Bevor er etwas sagen konnte, tauchte ein neuer Text auf: “Ist nicht der Rede wert. Ich habe mich daran gewöhnt. Lass uns weitermachen.“
Konnte man sich an so
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