Leben im Käfig (German Edition)
den Blick vom Fernseher zu wenden, griff Sascha nach Andreas' Hand. Sein Daumen glitt sacht über die glatte Haut, bevor er ihre Finger ineinander verschränkte. Seine Hand schützend über der seines Freundes, der Griff fest und aussagekräftig.
„Denk nicht“, raunte er hilflos. „Denk einfach nicht darüber nach.“
„Über was?“ Andreas klang kleinlaut, als wüsste er bereits um die Antwort.
„Darüber, dass wir gleich nach draußen wollen.“
Ein fast unmerkliches Rucken ging durch Andreas' Körper, als er sein Gewicht verlagerte und dabei wie zufällig näher an Sascha heranglitt. Das war Bestätigung genug. Kurz darauf spürte er, wie Andreas' Kopf vertrauensvoll an seine Schulter legte. Viel besser.
„Ich habe eine Scheißangst.“
„Musst du nicht haben. Ich bin ja dabei. Und wenn wir nur bis zur Terrasse kommen, macht das auch nichts.“
Aber Sascha hatte auch Angst. Die Verantwortung legte sich schwerer denn je auf seine Schultern. Ungewollt tauchten die Erinnerungen von ihrem Besuch im Krankenhaus vor ihm auf.
„Sagst du.“
„Psst.“
Unaufhaltsam und doch zu langsam wanderte die eingeblendete Uhr auf der Mattscheibe weiter. Sascha konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal in einer solchen Stimmung auf Mitternacht gewartet zu haben. So neugierig, begierig, besorgt, unsicher und gleichzeitig süchtig nach dem neuen Jahr.
Würde es besser werden? Schlechter?
Schwierig zu sagen, da mit Andreas viel Gutes in sein Leben getreten war und auf der anderen Sache zu viel Schlimmes vorgefallen war, um 2010 als positives Jahr hinter sich zu lassen.
Das Beste mitnehmen und den Ballast abwerfen, schwor Sascha sich. Abitur machen und dann sehen wir weiter.
Als das infernalische Geschrei im Fernseher begann, die Kamera zum Brandenburger Tor hochfuhr und sich die Menschen in die Arme fielen, küssten sie sich. Nass, leidenschaftlich.
Andreas drückte Saschas Finger, bis es wehtat.
Sie teilten sich den ersten Schluck Champagner und leckten sich die vergossenen Tropfen gegenseitig von den Lippen. Ein salziger Geschmack kitzelte Saschas Zunge und brachte ihn dazu, beide Arme um Andreas zu schlingen und ihn fest an sich zu ziehen. Sie schmolzen ineinander und er war froh darum.
Der kleine Teufel auf Saschas Schulter dachte darüber nach, es damit gut sein zu lassen. Niemand konnte sie zwingen, nach draußen zu gehen. Niemand verlangte, dass Andreas mit einer Heldentat ins neue Jahr trat. Nur, wenn sie sich gegenseitig aus der Sache herausredeten, würden sie sich hinterher beide fragen, ob es möglich gewesen wäre.
Am Ende war es Andreas, der sich aufsetzte und mit kristallklarer Stimme und erhobenem Kinn sagte: „Bringen wir es hinter uns.“
Die ersten bunten Tupfer fielen durch die Fenster ins Zimmer. Über der Elbe hallte das Zischen der in den Himmel steigenden Raketen wider und lockten mit brillantem Farbenspiel. Sascha wünschte sich, das Krachen und Kreischen des Bodenfeuerwerks könne wirklich böse Geister austreiben.
„Ich bin direkt hinter dir.“
In aller Eile zogen sie sich etwas über.
Willig ließ Sascha es zu, dass Andreas erneut nach seiner Hand suchte, als sie zusammen in den Hausflur traten und nach unten ins Wohnzimmer gingen. Scheu überkam ihn, als er in Andreas' von Schatten verdunkeltes Gesicht schaute, bemerkte, wie sein Adamsapfel auf und ab sprang.
Ich werde ihn nie verstehen können, kam es ihm in den Sinn. Ich werde nie begreifen, was ihm so viel Angst macht. Aber das ist vermutlich auch ganz gut so ... Nur wie soll ich ihm helfen, wenn ich nicht weiß, was in ihm vor sich geht? '
Andreas hatte es eilig, das Wohnzimmer zu durchqueren und die Terrassentür zu erreichen. Es fiel ihm schwer, sie zu öffnen, und für einen Moment glaubte Sascha, das Schiebeelement sei eingefroren. Schließlich aber gab die Tür nach und die Außenwelt begrüßte sie mit kalter Luft und dem Duft von Schnee, vermengt mit einer leichten Note Schwefel und Brandgeruch.
„Ich werde nach draußen gehen, aber ich kann nicht versprechen, dass ich lange bleibe“, knurrte Andreas der Welt entgegen. „Es ist mir egal, was passiert. Es ist mir egal, ob ich umkippe oder mir der Himmel auf den Kopf fällt. Ich werde jetzt da hinausgehen.“
Es ließ sich nicht überhören, dass er sich mit diesen Worten in erster Linie Mut machen wollte und nicht unbedingt an sie glaubte.
Überfordert und beeindruckt zugleich nickte Sascha und fragte sich, ob er vorgehen sollte. Ein paar Schritte
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