Leben im Käfig (German Edition)
nach draußen treten, wie man es bei Kindern tat, wenn man sie zum ersten Mal beim Schwimmen in tieferes Wasser locken wollte. Doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen.
Andreas ging nach draußen. Allein. Ließ Saschas Hand fahren und bot dem Universum, das in diesem Augenblick aus nachtschwarzer Dunkelheit, Farbkaskaden und winterlicher Idylle bestand, die Stirn.
Am Rande der Terrasse kam er zum Stehen und schaute in Richtung des gefrorenen Flussbandes, das sich hinter den mit Puderschnee bestäubten Bäumen schlängelte.
Auf Saschas Armen bildete sich eine Gänsehaut, als er seinem Freund folgte. Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen und reichte ihm weit über die Knöchel. Man konnte hören, dass mehr und mehr Nachbarn aus den umliegenden Häusern auf die Straße kamen und ihre eigenen Silvesterzauber schufen.
Explosionen tobten durch die Nacht und die Reflexion eines Feuerrades brach sich an den Fensterscheiben der umliegenden Häuser.
Sascha war nervös – und stolz. Langsam näherte er sich Andreas und umfasste ihn. Sein Kinn fand Platz auf seiner angespannten Schulter; Teil eines Körpers, der bereit schien, jederzeit die Flucht zu ergreifen. Andreas drängte sich in die Umarmung hinein und atmete flach ein und aus.
„Ich habe diesen Geruch seit elf Jahren nicht mehr in der Nase gehabt“, murmelte er heiser. „Beim letzten Mal war ich gerade alt genug, um ein paar Feuerfliegen anzünden zu dürfen. Und Wunderkerzen.“
Schweigend lauschte Sascha. Nur in Gedanken stellte er die Frage, die Andreas von sich aus beantwortete: „Natürlich waren meine Eltern nicht dabei. Mein Großvater ist mit mir nach draußen gegangen. Manchmal frage ich mich, warum er nie ... ich glaube, er kann mich gut leiden. Ich verstehe nicht, warum er nie ...“
Sascha verstand von Winterfeld Senior auch nicht. Wenn ihm etwas an Andreas lag, warum hatte er nie zu seinen Gunsten eingegriffen? Oder hatte er es versucht und war abgeschmettert worden?
Andererseits: Sein eigener Vater hatte auch erst reagiert, als Saschas Mutter zur Furie mutierte. Vorher nicht.
„Schau nach vorne, nicht nach hinten“, schlug er lahm vor und schämte sich im selben Moment für diese Binsenweisheit. Doch mehr konnte er Andreas in dieser Angelegenheit nicht anbieten. „Möchtest du wieder nach drinnen gehen?“
„Nein, noch nicht. Lass uns bleiben. Aber ... halt mich fest, okay?“
In diesem Augenblick begann Sascha zu hassen.
War es so leicht? Reichte es, Andreas in den Arm zu nehmen, damit er nach draußen gehen konnte? Reichte es, wenn man ihm ein klein wenig Sicherheit schenkte und ihm gut zuredete? Das war leicht!
Anders konnte er sich nicht erklären, warum ein Mensch, der sich vor wenigen Minuten noch geängstigt hatte, plötzlich im gefürchteten Garten stand und mit geschlossenen Augen die vom Feuerwerk diesige Nachtluft in die Lungen sog. War es so schwer für die von Winterfelds, ihrem Sohn dieses Sicherheitsgefühl zu geben? War es so schwer, sich darauf einzustellen, was sie alle brauchten? Was sie benötigten, um zu halbwegs normalen Männern heranzuwachsen?
„He ... was hältst du von Neujahrsvorsätzen?“, fragte Sascha unvermittelt einem Gedankenzug folgend, der seit Tagen in seiner Brust schwelte. „Denn ich habe zumindest einen.“
„Welchen?“ Andreas wirkte verwirrt, als wäre er aus intensiven Träumen erwacht.
„Ich scheiße darauf, was sie über mich denkt. Egal, wie. Aber ich schneide mir meine Mutter aus dem Fleisch. Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben.“
Wenn Andreas nichts von diesem Plan hielt, dann sagte er nichts dazu.
Stattdessen fragte er unsicher: „Und ich? Was nehme ich mir vor? Ich meine, gute Vorsätze sind eine tolle Sache, aber ich glaube nicht, dass ich innerhalb eines Jahres so viel erreichen kann wie du.“
„Du könntest dir vornehmen, es mir zu sagen, wenn du mich brauchst“, rutschte es Sascha heraus. Ihm war eine Spur unwohl bei diesen Worten. „Du könntest versuchen, nicht zu vergessen, dass ich immer für dich da bin.“
„Das ist zu viel verlangt.“
„Nein, gar nicht. Denn du bist auch für mich da. Und ich weiß, dass ich immer zu dir kommen kann, wenn es mir schlecht geht. Es ist nur fair, wenn du dir dasselbe angewöhnst“, redete Sascha ihnen beiden ein.
Andreas schwieg eine ganze Weile, bevor er nickte: „Ich kann es versuchen.“
„Dann haben wir einen Deal.“
Zusammen blieben sie im Garten, bis eine ferne Kirchenglocke schlug und
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