Leben im Käfig (German Edition)
hatte -, sodass er wusste, dass es nicht darum ging, dass nichts passieren konnte.
Es ging darum, dass es etwas in Andreas gab, das nicht daran glaubte, in Sicherheit zu sein. Seltsamerweise – oder vielleicht aus falschem Optimismus heraus – glaubte Sascha jedoch daran, dass es heute Abend funktionieren würde. Es war nur ein kleiner Schritt Richtung Freiheit und Andreas ging ihn nicht allein.
Gleichzeitig gab es niemanden, der in der Nähe war und ihn verurteilen konnte. Wenn das nicht der perfekte Schlachtplan war, wusste Sascha auch nicht weiter. Heimlich wünschte er sich, dass Andreas es genießen konnte. Er hatte es verdient.
Lange hielt die gemütliche Stimmung nicht an.
Sie waren jung und hatten in den vergangenen Tagen genug Zeit in den Armen des jeweils anderen verbracht. Insofern man davon genug bekommen konnte.
Nachdem sie ein wenig gefaulenzt hatten, fanden sie sich zu einem silvesterlichen Showdown vor der Playstation wieder. Sechs Spiele in zwei Stunden und wer die Oberhand behielt, durfte sich etwas wünschen. Währenddessen beschallte die Stereoanlage das Zimmer mit einem Potpourri möglicher und unmöglicher Songs, die für mehr Partystimmung sorgten, als Andreas je erlebt hatte.
Sascha war ein grauenhafter Sänger, aber das hielt ihn nicht davon ab, zwei Töne neben der Melodie mitzusingen, auch wenn ihm unter Androhung von französischen Küssen der Mund verboten wurde.
Der Fußboden wurde zum Massengrab für Chips und Salzstangen. Außerdem lag die Vermutung nahe, dass sich auf dem Höhepunkt der Feierlichkeiten mehr M&Ms unter dem Bett tummelten als im Magen der Anwesenden.
Mitternacht raste auf sie zu und ehe sie sich versahen, sprang die Weckfunktion von Saschas Handy an. Er schauderte unter dem Vibrationsalarm an seinem Bein und warf Andreas einen prüfenden Blick von der Seite zu.
Die Leichtigkeit drohte zu verfliegen, aber Sascha wollte es nicht darauf ankommen lassen. Er wollte keinen Druck ausüben oder Andreas das Gefühl geben, dass es ihm zu wichtig war, dass sie nach draußen gingen. Dabei war es ihm wichtig. Unglaublich wichtig. Ein Teil von Sascha wollte daran glauben, dass ein guter Start ins Jahr für sie beide von Bedeutung war. Ein Omen, an dem man sich im Angesicht nahender Katastrophen festhalten konnte.
„Lass uns erst nach Mitternacht nach draußen gehen“, bat Andreas. „Ich habe keine Lust, den Neujahrsschlag zu versauen.“
„Wie du magst“, nickte Sascha und legte Handy und Controller beiseite. Anschließend stand er auf und machte die Stereoanlage aus, schaltete wahllos auf eine der zahlreichen Silvesterpartys im Fernsehen.
Wie ein Fisch, der mithilfe seines Seitenlinienorgans Bewegungen unter Wasser spüren kann, fühlte Sascha, wie die ausgelassene Stimmung zwischen ihnen kippte und Nervosität Einzug erhielt. Er konnte sehen, dass Andreas' Finger zitterten, als er die Champagnerflasche entkorkte.
Es war erschreckend, wie schnell aus dem Teenager, nein, Mann, der ihn in den letzten Tagen aufgefangen und mit seiner Anwesenheit in Sicherheit gehüllt hatte, ein ängstlicher Junge wurde, der sich vor der Welt vor der Haustür fürchtete. Es war traurig mitanzusehen, beklemmend sogar. Nervosität war legitim, aber sie würden sich davon nicht unterkriegen lassen.
Gemeinsam setzten sie sich auf die Bettkante und folgten der nur mäßig lustigen Moderation eines Entertainer-Pärchens. Ihre Schultern berührten sich, aber Sascha wurde das Gefühl nicht los, dass die innige Vertrautheit verflogen war.
Das Leuchtfeuer an seiner Seite war erloschen. Innerhalb von Sekunden war ein unsichtbarer Wall zwischen ihnen entstanden. Er konnte sehen, hören, riechen, aber Andreas als Mensch nicht mehr wahrnehmen. Aus den Augenwinkeln sah er nur noch eine eherne Fassade, die ihm ebenso leblos erschien wie eine venezianische Pestmaske.
Alles in Sascha wehrte sich gegen diese Entwicklung. Er fühlte sich ausgestoßen, wusste nicht, was in Andreas' Seelenlabyrinth vor sich ging.
Wie sollte er ihm helfen, wie sollte er ihm beistehen, wenn er nicht mehr wusste, was er empfand?
Ein Echo der Ängste, mit denen Andreas tagtäglich zu tun hatte, traf Sascha bis ins Mark und ließ ihn für den Bruchteil einer Sekunde denken, dass er froh sein konnte, gesund zu sein.
Er wollte nicht, dass es schief ging. Er musste etwas tun – und wenn auch nur zu seiner eigenen Bestätigung. Um hinterher sagen zu können: „Ich habe alles versucht, um es möglich zu machen.“
Ohne
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