Leben im Käfig (German Edition)
Vorbereitungen für Andreas' Ausflug zeigten das ganze Ausmaß seiner Phobie.
Zuerst einmal war für ihn klar, dass er sich nicht auf die Terrasse setzen und warten würde. Er würde von oben beobachten, wann Sascha nach draußen kam. Desweiteren griff er nach langer Überlegung in die Schublade seines Nachttischs und schob sich eine kleine Dose in die Hosentasche.
Lorazepam war ein Wirkstoff, vor dem er aufgrund der Suchtgefahr großen Respekt hatte, aber es war das Einzige, was ihm helfen konnte. Sein Hausarzt verschrieb das Medikament nur zögerlich, aber selbst Andreas musste manchmal hinaus in die Welt und dazu brauchte er ein angstlösendes Beruhigungsmittel. Jetzt nahm er es mit, um im Notfall einen Rettungsanker zu haben. Die Panikattacke beim Schwimmen schien diese Maßnahme notwendig zu machen.
Der nächste Schritt war, sich im Badezimmer kaltes Wasser über die Handgelenke laufen zu lassen. Oft war es sein Kreislauf, der ihm den Dienst verweigerte, und jeder wusste, dass kaltes Wasser auf den Armen den Kreislauf stabilisierte. Andreas' Magen war leer, was eine gute Sache war, denn somit würde er sich draußen nicht übergeben. Schließlich prüfte er unzufrieden sein Äußeres und band seine Haare im Nacken zusammen.
Für Andreas waren diese Vorsichtsmaßnahmen selbstverständlich. Jeder andere Mensch hätte angesichts seiner Überlegungen den Kopf geschüttelt, aber dafür hatte Andreas schon lange kein Gefühl mehr.
Letztendlich wartete er fast zwei Stunden auf dem Fensterbrett sitzend darauf, dass Sascha sich zeigte. Während der gesamten Zeit schlug ihm sein Herz bis zum Hals, sodass er um ein Haar gekniffen hätte, als es endlich soweit war.
Mit zitternden Knien sprang Andreas von der Fensterbank und atmete tief durch. Er musste sich konzentrieren. Wenn er sich nicht von vorneherein gegen die Angst stemmte, würde sie ihn schon auf der Treppe wahnsinnig machen. Er wusste nicht, warum das so war. Wenn er auf dem Weg in den Fitnessraum war, konnte die Treppe ihn nicht schrecken. Lag aber ein anderes Ziel vor ihm, war jede Stufe ein Problem.
All seinen Mut zusammennehmend verließ er die Sicherheit seines Zimmers. Als er unten im Flur ankam, waren seine Schultern unvorteilhaft hochgezogen, als erwarte er jeden Augenblick ein Attentat. Das Passieren des Wohnzimmers wurde zur Zerreißprobe und beinahe hätte er umgedreht. Immer wieder sagte er sich, dass es nichts gab, vor dem er Angst haben musste. Immer wieder erinnerte er sich daran, dass er nur auf die Terrasse gehen würde. Kein Stück weiter. Vielleicht drei Minuten würde die ganze Sache dauern und drei Minuten konnte er überstehen. Das wusste er. Oder er musste es zumindest glauben.
Die Schiebetür zum Garten schien ihn auszulachen, als er sie mit verbissener Miene aufschob. Eine Wand aus Hitze und intensiven Gerüchen schlug ihm entgegen und zwang ihn dazu, stehen zu bleiben und ruhig zu atmen. Schwindel kroch an ihn heran wie ein verschlagenes Raubtier und machte sich bereit, über ihn herzufallen. Mit einem Mal schien es dumm und kindisch, sich diesen Qualen auszusetzen, nur um Sascha aus größerer Nähe unter die Lupe zu nehmen. Angst und Instinkt kämpften in Andreas um die Vorherrschaft, bis er dem inneren Krieg ein Ende setzte, indem er die Finger in die Hosentasche gleiten ließ und nach draußen trat.
Der glatte Kunststoff der Medikamentendose schmiegte sich in seine Handfläche und gab ihm für den Moment ein wenig Halt. Er machte ein paar Schritte in Richtung der hölzernen Gartenmöbel und war froh, als er sich auf die mit weißen Polstern bedeckte Bank setzen konnte.
Er hatte seinen Beobachtungsposten erreicht. Er drehte den Hals in Richtung des Grundstücks der Holmes. Es gab eine schmale Lücke zwischen Buchsbaumhecke und Rhododendron, durch die er ein wenig von dem Treiben nebenan erkennen konnte.
Sascha spielte mit seinem Cousin Fußball und machte dabei eine ziemlich gute Figur. Andreas' dunkle Augen weiteten sich unmerklich, als er innerlich Saschas schlanken Körper entlang streichelte und sich fragte, wie es wäre, ihn zu berühren.
Als er sich sattgesehen hatte, spürte er einen vagen Anflug von Stolz auf seinen Mut. Entschlossen, sein positives Erlebnis nicht mit zu viel Wagemut zu verderben, erhob er sich und wandte sich zum Gehen.
Dummerweise – oder glücklicherweise – war das Guckloch zwischen den Büschen beidseitig, sodass er auf einmal entsetzt feststellen musste, dass Sascha von seinem Spiel aufsah,
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