Leben im Käfig (German Edition)
hatten, wenn sie weiterhin umeinander herumschlichen, bis jemand explodierte und der nächste Streit die Wände zum Zittern brachte.
Tanja hatte ihm großzügig eine Alternative geboten. Aber sie konnte nichts dagegen tun, dass es Sascha ein widerliches Gefühl in der Magengrube bescherte, sein Zuhause verlassen zu haben, weil seine Eltern nicht mit ihm zurechtkamen. Ihn nicht nehmen konnten, wie er war. Sich vermutlich vor seinen Neigungen ekelten.
Dabei konnte keine Rede davon sein, dass er auf abartige Sexpraktiken mit Hunden, Blut oder kleinen Kindern stand. Er liebte Männer. Das war alles.
Dass sein Vater ihn kurz nach seiner ach so schockierenden Entdeckung beiseite genommen und gedroht hatte, ihn windelweich zu prügeln, wenn er Sascha je in der Nähe kleiner Jungen sah, hatte ihn innerlich beinahe umgebracht.
Kannten sie ihn so wenig? War jeder Schwule für sie ein Pädophiler? Trauten sie ihm so etwas zu? Er wollte immer noch glauben, dass die Bemerkung seines Vaters dem ersten Schreck entsprungen war – die damit verbundene Drohung ebenso. Sascha war abgesehen von ein oder zwei Ohrfeigen nie geschlagen worden. Er würde sogar sagen, dass er eine recht schöne Kindheit hatte. Umso schlimmer, dass dieser Schutz jetzt in sich zusammenbrach, nur weil er anders war.
Nein, sein Vater hatte es nicht ernst gemeint. Das wusste Sascha tief in seinem Herz. Aber anscheinend gab es gewisse Ängste, denen die Eltern von Homosexuellen sich stellen mussten.
Dass in den Medien immer wieder von verkappt schwulen Priestern oder Lehrern berichtet wurde, die sich an ihren Schützlingen vergriffen hatten, half nicht. Reißerische Zeitungen, die diese Themen bis zum Erbrechen ausreizten und zur Volksverdummung beitrugen, ebenfalls nicht.
Auch im Jahr 2010 existierte in einigen Köpfen noch das alte Bild des mit sexuell übertragbaren Krankheiten gespickten, tuntigen Kerls, der sich alles packte, was nicht bei drei auf dem Baum war. Eigentlich unbegreiflich, aber wie hieß es so schön?
Der Intelligenzquotient einer Gruppe von Menschen entspricht dem IQ des dümmsten geteilt durch alle anderen Gruppenmitglieder.
Sie lebten im toleranten, modernen Deutschland, verdammt noch mal; nicht in Uganda. Es gab Eingetragene Lebenspartnerschaften für Homosexuelle. Es gab ein Grundgesetz, nach dem jeder Mensch gleichbehandelt werden musste. Berlin hatte einen schwulen Bürgermeister, andere Städte ebenso. Hölle, selbst der verfluchte Außenminister, der um die ganze Welt reiste und mit fremden, weniger offenen Kulturen in Berührung kam, war schwul. Saschas Klassenkameraden, von denen man aufgrund ihrer Jugend Übles zu erwarten hatte, hatten ihn ohne mit der Wimper zu zucken akzeptiert. Nur seine Eltern kamen nicht klar. Das war ungerecht.
Ungerecht war auch, dass Sascha sich den trüben Gedanken nicht entziehen konnte. Missmutig trat er an das Hafenbecken und lehnte sich ans Geländer. Die seichten Wellen schlugen gegen den rissigen Beton.
Er wollte in Hamburg ankommen, die Vergangenheit und die damit verbundenen Gefühle hinter sich lassen. Sich auf ein Ziel konzentrieren.
Dumm nur, dass der Schulanfang noch weit entfernt lag. Er war vermutlich der einzige Schüler in der ganzen Stadt, der dem Beginn des neuen Schuljahres entgegenfieberte. Aber in seinen Leistungskursen würde er mit Menschen zusammentreffen. Vielleicht würde er nicht gleich neue Freundschaften schließen, aber doch zumindest Bekanntschaften, die ihn aus der Langeweile und drohenden Lethargie rissen. Der Stress auf dem Weg in Richtung Abitur würde auch helfen.
In diesen Tagen gab es schlicht zu wenig, mit dem er sich beschäftigen konnte, um sich von den Dingen abzulenken, mit denen er sich nicht auseinandersetzen wollte. Deswegen wanderten seine ziellosen Gedanken zu dem Gespräch mit seiner Tante vor zwei Tagen. Oftmals war es leichter, sich mit dem Leid anderer Menschen zu beschäftigen als mit dem eigenen.
Das Mysterium rund um den Sohn der Nachbarn war die ein oder andere Überlegung wert. Noch immer verursachte ihre erste Begegnung einen üblen Nachgeschmack, aber Sascha begann sich zu fragen, welches Geheimnis Andreas von Winterfeld umgab.
Nicht, dass er mit etwas Dramatischem rechnete.
Aber der Gedanke an einen Jungen in seinem Alter, der seit Jahr und Tag kaum das Haus verließ und angeblich krank war, war befremdlich.
Okay, ging er einmal davon aus, dass Andreas wirklich krank war. Die Vorstellung, bereits so lange an das Haus gebunden zu
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