Leben im Käfig (German Edition)
beiseite.
„Und jetzt zu dir, Freundchen“, murmelte er, bevor er sich in die Arbeit stürzte.
Kapitel 46
„... mit dem Artikel beschäftigt, den ich kopiert habe? Daraus geht gut hervor, wie die wirtschaftliche Entwicklung ...“ Dr. Schnieder unterbrach sich und schielte über den Rand seines Lehrbuchs. „Ist etwas nicht in Ordnung?“
Andreas war aufgesprungen. Der Schweiß rann ihm in Sturzbächen über den Rücken und er spürte seine Zehen und Fingerspitzen nicht mehr.
Die Bücher an den umliegenden Wänden zwinkerten ihm höhnisch zu. Die Dunkelheit der Bibliothek erinnerte ihn an einen Sarg. An den äußeren Rändern seines Blickfelds flimmerten Schatten, die zunehmend näher an ihn herankrochen.
Bedrohlich. Gefährlich. Tödlich.
„Können wir bitte aufhören? Ich kann nicht mehr. Tut mir leid“, stammelte Andreas kurzatmig, während seine Finger sich in die Rückenlehne seines Sessels gruben.
Er spürte die Textur des Leders kaum, aber dafür hinterließ seine Hand nasse Flecken auf dem dunklen Material. Er wollte rennen.
„In Ordnung“, nickte Dr. Schnieder. „Wir sind in der letzten Zeit gut vorangekommen. Lassen wir es für heute gut sein.“
Noch bevor das letzte Wort des Privatlehrers verhallt war, schoss Andreas wie von der Tarantel gestochen aus dem Raum und raste in sein Zimmer. Jeder Schritt, jede Stufe war zu viel, kostete ihn Zeit, die er nicht hatte.
Zwei Stunden. Zwei Stunden lang hatte er durchgehalten, obwohl es ihn innerlich schüttelte, er nicht schlucken konnte und glaubte, den Verstand zu verlieren.
Und nun konnte er nicht mehr, sank an der Innenseite der Tür zu Boden und wartete darauf, dass ihn die eigenen vier Wände in Sicherheit wiegten. Langsam. Ganz langsam. Atmen. Darauf warten, dass es besser wurde. Zur Ruhe kommen.
Zitternd stieß Andreas den Atem aus, spürte, wie das Leben in seine tauben Gliedmaßen zurückkehrte und seine Sicht klarer wurde. Auf der Suche nach Halt schmiegte er die Wange an die Tür. In diesen Tagen fühlte er sich einmal mehr wie eine Schnecke ohne Haus. Er war von Chaos umgeben und in ihm selbst herrschte ebenfalls ein abartiges Durcheinander vor. Gott, er vermisste Sascha.
Seit dem vergangenen Freitag hatten sie sich nicht gesehen.
Heute war Donnerstag.
Andreas verfluchte das verdammte Abitur, das sie voneinander fernhielt. Und er verfluchte sich selbst, weil ein Teil von ihm vor Angst erstarrt war, weil er glaubte, dass mehr hinter Saschas plötzlicher Abwesenheit steckte.
Der Hexenkessel, der inzwischen in der Villa entbrannt war, tat sein Übriges, um ihn zu quälen. Von der Panikattacke, die er als klebrigen Film auf seinem Rücken spüren konnte, ganz zu schweigen.
Es war die vierte innerhalb einer Woche und die in den Ferien angesammelten Kräfte waren verbraucht.
Aber er hatte es versucht, nicht wahr?
Schon nach dem Aufwachen hatte Andreas gespürt, dass ihm ein schlimmer Tag bevorstand. Ein bleierner Tag. Ein Tag, an dem es besser war, im Bett zu bleiben und sich die Decke über den Kopf zu ziehen.
Aber er hatte an seine Mutter gedacht. An die hässlichen Szenen, die sich in den letzten Tagen zwischen seinen Eltern abgespielt hatten. Daran, dass er gebraucht wurde. Somit war er aufgestanden und hatte die Zähne zusammengebissen. Hatte sich Mühe gegeben, seine Panik im Zaum zu halten. Ein Teil von ihm war davon überzeugt, versagt zu haben. Ein anderer Teil wusste, dass er lange durchgehalten und erfolgreich gekämpft hatte.
Gut, es hatte nicht für den ganzen Morgen gereicht, aber wenigstens hatte er es versucht.
Nur jetzt war er ausgebrannt. Leer. Schwach. Und sehr allein.
Verzweifelt stützte Andreas die Stirn seine Faust und lauschte dem Rasseln seines Atems. Fühlte dem Brennen in seiner Kehle nach, welches das zwanghafte Schlucken ohne Speichel hinterlassen hatte.
Nie genug. Egal, wie viel Mühe er sich gab, es konnte nie genug sein. Er hatte schon zu viel Zeit verschenkt. Längst sollte er das Abitur in der Tasche haben und sich auf sein Studium konzentrieren, das ihn darauf vorbereitete, seine Eltern in der Firma zu entlasten. Stattdessen brach er nach zwei Stunden den Privatunterricht ab, weil er keine Kraft mehr hatte, sich in der hauseigenen Bibliothek aufzuhalten.
Dabei brauchten sie ihn. Er hatte sich zu Tode erschrocken, als er am Sonntag Nachmittag - deprimiert nach Saschas Ankündigung, dass er in Zukunft weniger Zeit für ihn hatte - auf der Suche nach Schokolade am Wohnzimmer
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