Leben im Käfig (German Edition)
mehr zu finden war, lehnten die beiden sich an das Treppengeländer vor dem Haus und unterhielten sich.
Andreas konnte es nicht mit ansehen. Ein stachliges Ungetüm nistete in seinem Magen und zwang ihn zum Rückzug.
Er suchte sein Heil in einer DVD, doch er hielt nicht lange durch. Er wollte nicht eifersüchtig sein. Dazu gab es keinen Grund. Und er hatte kein Recht dazu. Auch nicht, wenn die Blondine ausgesprochen hübsch war. Sascha war schwul. Daran gab es keinen Zweifel. Nur ...
Andreas schlich sich zurück zum Fenster. Getroffen wich er einen Schritt zurück, als er sah, dass Sascha und das Mädchen immer noch vor dem Haus standen und miteinander redeten. Ein grünäugiges Monster zerfetzte Andreas von innen die Eingeweide.
Erschüttert wischte er sich mit einer Hand über die feuchten Augen. Da erzählte Sascha ihm, dass er dringend lernen müsse und deswegen keine Zeit für ihn hätte. Meldete sich über Tage nicht bei ihm. Ließ ihn allein, obwohl er wusste, dass Andreas unter der Situation mit seinen Eltern litt. Und nun flanierte er mit einer Fremden stundenlang vor dem Haus herum und unterhielt sich großartig. Von Zeitdruck keine Spur.
Himmel, Andreas erwartete nicht, dass Sascha ihm seine gesamte Freizeit schenkte. Aber er hatte ihn nicht einmal angerufen. Oder ein kleines „Ich vermisse dich“ in seinem Mailfach hinterlassen. Gar nichts.
Aber für die kleine Schlampe hatte er Zeit. Und die sah nicht gerade aus, als wäre sie zu Tode betrübt oder von einem Schicksalsschlag getroffen worden, der rechtfertigte ...
Scheiße. Andreas wischte sich die Tränen ab.
Er suchte nach Rechtfertigungen für Sascha. Er versuchte zu erklären, was vor sich ging. Er wollte sich einreden, dass das Mädchen eine Mitschülerin war, mit der er lernen wollte.
Aber selbst wenn: Hatte Sascha nicht gesagt, er müsse vorerst allein arbeiten? Und vor dem Haus und ohne Bücher lernte es sich schlecht. Andreas wollte daran glauben, dass die Fremde Sorgen hatte und einen Freund brauchte. Aber für jemanden, der Sorgen hatte, war sie eindeutig zu gut aufgelegt.
Es tat weh. Es tat höllisch weh.
Kein „Wie geht es dir?“ Kein „Wie kommst du zurecht?“ Kein „Braucht du mich?“ Kein „Ich wäre gerne bei dir“. Dafür war keine Zeit. Mehr hatte er nie erwartet. Für das Miststück dort draußen hingegen war er verfügbar.
Andreas wusste nicht, was er tun sollte. Und dann wurde ihm wusste, dass er gar nichts tun konnte. Er hatte kein Monopol auf Saschas freie Zeit. Beklagen durfte er sich auch nicht. Immerhin hatte Sascha ihm in der Vergangenheit oft zur Seite gestanden. Dass er jetzt nicht hier war, während Andreas' Universum bröckelte, er wie ein Tiger kämpfe, um sich gegen seinen inneren Schweinehund durchzusetzen, war Pech, aber nicht zu ändern.
Daran musste er glauben, wollte er glauben.
Andreas unterdrückte das Schluchzen, das bewegungslos in seinem Hals saß und in seine Augen stieg. Rücklinks ließ er sich auf das Bett fallen und vergrub den Kopf seinen Händen. Umso heißer die Tränen flossen, umso mehr verabschiedete sich sein Verstand. Umso weniger war er in der Lage, Grenzen zu ziehen oder sich zu sagen, dass Sascha machen konnte, was er wollte.
Am Ende tat es nur grauenerregend weh, allein auf seinem Bett zu liegen und nicht zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Niemanden zu haben, der ihm sagte, dass er tapfer gewesen war, als er am Morgen gegen seinen Fluchtinstinkt kämpfte. Niemanden, der ihn umarmte und küsste, um ihn neue Kraft einzuflößen. Niemanden, der ihn festhielt, während er sich von den Schrecken der letzten Tage erholte. Wie viel Zeit konnte es kosten, eine Email zu schreiben, in der stand: „Ich wünschte, wir könnten zusammen sein“?
Aber wenn man keine fünf Minuten wert war, die der Vater sich nahm, um die aktuelle Lage zu erklären. Wenn man für die Mutter zu einer Bedrohung ihres Erbes wurde. Wenn man es nicht wert war, von den eigenen Eltern bedingungslos geliebt zu werden. Wenn man es nicht wert war, trotz des eventuellen Geredes der Nachbarn und Geschäftspartner gegen eine Krankheit behandelt zu werden, die ihn zu einem Leben im Goldenen Käfig verdammte, war man auch die dreißig Sekunden, die es brauchte, um eine Email zu schreiben, nicht wert.
Andreas wurde kalt. An diesem Tag stand er nicht mehr auf. Er wollte nicht mehr. Konnte nicht mehr. Er zwang sich, nicht darüber nachdenken. Nicht über Sascha, nicht über seine Eltern, nicht über seine
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