Leben im Käfig (German Edition)
schlaffen Gliedmaßen, den Kopf auf der Rückenlehne und gen Zimmerdecke schauend. Der Teebecher in seinen Fingern war warm. Das Aroma von Waldfrüchten stieg ihm in die Nase und beruhigte seine angeschlagenen Nerven. Zumindest ein klein wenig. Was in und um ihn vor sich ging, verstand Sascha immer noch nicht. Irgendetwas fühlte sich falsch an.
„So“, sagte Tanja schließlich. „Wie gesagt, ich wollte schon länger mit dir sprechen. Schon vor Weihnachten, aber ich habe mir gedacht ... Na, sagen wir, ich wollte mich nicht einmischen.“
„In was einmischen?“
„In deine Beziehung natürlich.“
Zum ersten Mal fiel Sascha auf, dass seine Tante wusste, dass er mit Andreas zusammen war. Dass sie mehr als Freundschaft verband. Woher eigentlich?
„Woher weißt du davon? Ich habe nie etwas gesagt, oder?“
Amüsiert lachte Tanja auf: „Hältst du mich für blind? Ich denke mir auch meinen Teil, wenn du mitten in der Nacht mit blutroten Lippen und stinkend wie ein Eber von drüben nach Hause kommst. Außerdem ist es doch schon recht ungewöhnlich, dass man in den Ferien bei einem Kumpel praktisch einzieht, oder?“
Gut. Geschlagen ließ Sascha den Kopf sinken. Da hatte sie einen Nerv getroffen. Daran gab es nicht zu beschönigen. Keine Ahnung, warum er nie offen darüber geredet hatte, was er für den verschlossenen Nachbarsjungen empfand. Es war etwas gewesen, das er allein genießen wollte. Kennenlernen. Sich daran gewöhnen. Etwas, das Andreas und ihm gehörte; niemandem sonst. Bei diesem Gedanken spürte Sascha zu seiner eigenen Überraschung seine Augen jucken. Es tat weh, an Andreas zu denken. An das, was gerade geschehen war. An das, was Sascha sich erhofft hatte und was er stattdessen bekommen hatte.
„Wie dem auch sei“, begann Tanja von Neuem. „Du hast Andreas gern, oder? So gern, dass du gerade stocksauer bist, weil etwas schief läuft. So gern, dass du mir vor ein paar Tagen noch erzählt hast, dass du die Vorgänge bei den von Winterfelds abartig findest.“
„Ja, mehr als gern“, gab Sascha zu, der nicht wusste, warum er etwas abstreiten sollte, das dermaßen offensichtlich war.
„Und ihr seid zusammen? Oder habt ihr nur Spaß?“
„Wir sind auch zusammen. Was wird das hier? Die Spanische Inquisition?“ Nervös spielte Sascha mit seiner Teetasse. „Außerdem ... darum geht es doch gar nicht, oder? Ich bin gerade einfach gestresst, und Andreas ... Keine Ahnung! Es ist im Augenblick so viel los. Ich habe halt keine Zeit und weiß nicht, wie ich sie mir aus den Rippen schneiden soll. Aber er ...“
„... hat nur dich, wenn deine Beobachtungen seiner Eltern richtig sind“, unterbrach Tanja ihn leise. „Und genau das ist es, was mir Sorgen macht.“
Unangenehm berührt kratzte Sascha sich am Bauch, damit seine untätige Hand etwas zu tun bekam. Unter Tanjas sanftem Blick fühlte er sich winzig klein und vor allen Dingen durchschaubar. Sorgen? Was machte ihr Sorgen?
Er wagte nicht nachzufragen aus Angst, wie die Antwort aussehen würde.
„Du bist achtzehn Jahre alt, Sascha“, beantwortete Tanja nach einer Weile unaufgefordert die Frage, die er nicht gestellt hatte. „Du steckst im Abitur. Du bist in einer Stadt, die immer noch neu für dich ist. Du hast unglaubliche Schwierigkeiten mit deiner Mutter. Für Katja fühlst du dich auch verantwortlich. Deine Freunde in der Schule wollen dich auch ab und zu mal sehen. Und du hast dich in jemanden verliebt, der furchtbare Probleme hat. Meinst du nicht, du erwartest ein bisschen viel von dir?“
„Was soll ich machen? Man kann sich doch nicht aussuchen, wen man gern hat und wen nicht“, bockte Sascha, da er ahnte, worauf sie hinauswollte.
Langsam schüttelte Tanja den Kopf und nahm einen Schluck Tee: „Nein, bestimmt nicht. Nur, hast du dich mal gefragt, wie das alles weitergehen soll? Mit Andreas und dir? Nicht morgen oder in einer Woche. Langfristig.“
„Langfristig?“, echote Sascha. Plötzlich schien das Wohnzimmer dunkler als noch vor wenigen Sekunden.
Traurig seufzte Tanja: „Schau, Andreas ist sehr krank. Und so wie es im Augenblick aussieht, bekommt er nicht die Hilfe, die er braucht. Oder er will sie nicht.“ Unter ihrem stechenden Blick rutschte Sascha tiefer in die Couch. „Dir ist hoffentlich klar, dass du mit einem Jungen wie Andreas nicht spielen darfst. Ich weiß, dass du gestresst bist. Aber er ist es mit Sicherheit auch. Man muss jemandem schon sehr lieben, um mit ihm durch die Hölle zu gehen. Du
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