Leben im Käfig (German Edition)
fast sieben Uhr abends. Was hieß „später“? In fünfzehn Minuten, in einer Stunde?
Andreas quälte sich. Er konnte und wollte nicht zum Tagesgeschäft übergehen, mit Sascha ins Bett steigen und es hinnehmen, dass er verschwand, kurz, nachdem sie beide ihren Samen versprüht hatten.
Schon gar nicht, wenn dieser so merkwürdig zielorientiert war. So gar nicht der Sascha, der ihn aufrichtete und beruhigte, wenn es ihm schlecht ging. Oder der Sascha, der in den Ferien in seinen Armen gelegen und mit stockender Stimme über seine Probleme gesprochen hatte. Oder der Sascha, der schlicht fröhlich war, vor Übermut brannte und wirkte, als könne ihn nichts und niemand erschüttern.
Und plötzlich wollte Andreas keinen Sex mit diesem fremden Wesen. Wenn ihm jemand vor einem Jahr gesagt hätte, wie er sich in diesem Augenblick fühlten würde, hätte er gelacht. Aber er kam sich benutzt vor.
Normalerweise war er der Erste, der über Sascha herfiel, der nicht genug von ihm bekommen konnte. Zu wissen, dass er nur mit Mühe in den Terminplan gequetscht worden war, dass er nicht einmal gefragt wurde, wie es ihm ging, war Salz in seinen Wunden. Damit konnte er leben, wenn alles in normalen Bahnen lief, aber nicht, wenn er sich die Ohren mit Wachs ausgießen wollte, um die Streitereien seiner Eltern nicht mehr zu hören, die zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten durch die Villa schallten.
Wider besseren Wissens löste Andreas sich aus Saschas Griff und fragte mit brüchiger Stimme: „Du bist gleich noch verabredet?“
Überrascht rückte Sascha nach, strich ihm zärtlich – oh Gott, das tat gut - über den Hals und murmelte: „Ja. Brain hat so gebettelt. Ich konnte es ihm nicht abschlagen. Sorry.“
„Okay ... und morgen?“
Ruhig bleiben. Ein Wurfanker steckte in Andreas' Brust und zog ihm Stück für Stück die Haut vom Leib.
„Sieht ganz böse aus. Du hast keine Ahnung, wie viel ich noch zu tun habe. Ich habe richtig Mist gebaut“, stöhnte Sascha. „Ich habe mir die Akten gar nicht angesehen und nun bin ich Tag und Nacht damit beschäftigt, mir die passenden Bücher zu besorgen und Sachen zu kopieren und zu lesen.“
„Außer, wenn du mit irgendwelchen Schnallen durch den Garten turnst, meinst du?“
Augenblicklich bereute Andreas, den Kuss unterbrochen und den Mund für andere Dinge geöffnet zu haben. Was war mit seinem Vorsatz, tapfer zu schweigen, geschehen? Aber er hatte es nicht ausgehalten.
Man konnte viel über Andreas sagen, aber nicht, dass er unsensibel war. Und er fühlte, dass etwas nicht in Ordnung war. Andreas ärgerte sich nicht darüber, aber… Gut, er ärgerte sich doch. Aber vor allen Dingen machte es ihm Angst.
Sichtlich missgelaunt trat Sascha einen Schritt von ihm zurück: „Wie bitte?“ Es dauerte ein oder zwei Sekunden, bevor ihm dämmerte, wovon die Rede war: „Du meinst Miriam. Sag mal, was wird das hier? Spionierst du mir nach?“
Beschämt wich Andreas seinem Blick aus und ging hinüber zum Fenster. Die winterlich grauen Gräser des Gartens waren in diesem Moment ein ungleich angenehmerer Anblick als die eisige Miene seines Freundes.
Brain, Miriam, die Abiturvorbereitungen. Offensichtlich war gerade vieles wichtiger als er. Was das Abitur anging, verstand Andreas seinen Freund. Was alles andere anging, nicht. Vermisste Sascha ihn denn gar nicht? War er der Einzige, dem die Nähe fehlte, die sie in den Ferien miteinander geteilt hatten? War er der Einzige, der davon träumte, nachts zusammen schlafen gehen zu können?
„Weißt du was?“, drang Saschas Stimme kühl zu ihm durch. „Ich habe keine Lust auf diesen Zirkus. Ich habe tierischen Stress und wollte dich einfach nur besuchen kommen und eine schöne Zeit haben. Aber das ist heute offenbar nicht drin.“
Die Kälte, die Andreas' Magen seit dem Vortag bevölkerte, gewann an Präsenz. Ja, er wollte auch eine schöne Zeit verbringen. Nur war es schwer, leichtherzig und unbeschwert zu sein, wenn man von seinen Sorgen aufgefressen wurde. Wenn die eigene Familie auseinanderbrach. Wenn er Angst hatte, dass seine Mutter betrunken Auto fuhr. Oder falsch. Er wusste, dass sie betrunken Auto fuhr. Die Angst galt der Vorstellung, dass sie einen Unfall verursachte.
Andreas' Stimme war kaum vernehmlich, als er flüsterte: „Eine schöne Zeit kann ich dir gerade nicht anbieten. Hier ist die Hölle los. Meine Eltern zerfleischen sich gegenseitig. Tag und Nacht. Meine Mutter sieht aus, als würde sie jeden Moment tot
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