Leben im Käfig (German Edition)
nicht? Nun gut, reden wollte Andreas vermutlich nicht; schon gar nicht mit jemandem, der außer einem Haufen Klischees keine Ahnung von der Materie hatte.
„Aber wozu gibt’s das Internet?“, murmelte Sascha in sich hinein. Er verließ seinen Platz auf dem Fußboden und setzte sich an seinen Rechner. Er überlegte kurz und fütterte schließlich die Suchmaschine mit den wenigen Informationen, die er hatte.
Das Ergebnis kam viel schneller als er zu hoffen gewagt hatte. Dutzende Seiten sprangen auf, boten Erklärungen an und sogar Lösungen. Einiges passte von vornherein nicht und behandelte ganz andere Themen, aber innerhalb kürzester Zeit kristallisierte sich der Name einer Krankheit heraus, die auf Andreas zu passen schien.
Agoraphobie. Die krankhafte Angst vor offenen Plätzen und Menschenmengen. Sascha klickte sich durch eine Seite nach der anderen. Er fand Berichte von Betroffenen, medizinische Abhandlungen, Adressen von Anlaufstellen und Definitionen. Ihm fiel auf, dass einige Artikel sich gegenseitig widersprachen. Besonders bezogen auf die Therapien schien es unterschiedliche Meinungen zu geben. Das Wichtige war jedoch für ihn, dass es eine Therapie gab.
Agoraphobie. Selbst die Krankheit als solche schien nicht immer dieselben Wege zu beschreiten oder gleich stark aufzutreten.
Er fand Berichte von Menschen, die nur während einer kurzen Phase ihres Lebens und mit ganz speziellen Orten zu kämpfen hatten und er fand Aussagen von Leuten, die seit Jahren nicht mehr das Haus verlassen hatten. Er lernte, dass agora aus dem Griechischen kam und Platz oder Marktplatz hieß, aber dass man Agoraphobie auf keinen Fall mit der umgangssprachlichen Platzangst verwechseln durfte.
Menschen wie Andreas hatten kein Problem mit Fahrstühlen – zumindest nicht mit leeren - und engen Räumen. Sie hatten Angst vor Orten, an denen ihnen viele Menschen ins Gesicht sahen. Orte, von denen sie schlecht fliehen konnten. Sie fürchteten in seltenen Fällen, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fiel, und mieden weite Flächen. Auch Reisen schienen bei dem ein oder anderen ein Problem zu sein.
Des weiteren lernte er, dass einige Betroffene schwere Panikattacken erlitten, wenn sie mit anderen Menschen zu tun hatten und andere sich „nur“ unwohl fühlten. Allgemeingültig war jedoch der Wunsch, die schwierigen Situationen zu vermeiden, da die Konfrontation mit ihnen unmenschlichen Stress nach sich zog.
Sascha las einen Artikel über das Phänomen der „Angst vor der Angst“. Anfangs verstand er den Sinn dahinter nicht ganz, bis er begriff, dass diese Komplikation bedeutete, dass die Betroffenen solche Angst vor Versagen und Panikattacken bekamen, solche Angst, es nicht zu „schaffen“, dass sie von vorneherein den Versuch nicht mehr wagten.
Über die Ursachen stritten sich die Geister. Anscheinend waren die Gründe für die Krankheit genauso individuell wie ihr Verlauf.
Bei einigen trat die Panikstörung während einer besonders schwierigen Phase ihres Lebens auf und endete, sobald die Probleme gemeistert waren. Andere gerieten durch traumatische Geschehnisse in den Sog der Krankheit. Eine sehr große Gruppe aber schien an Agoraphobie zu leiden, weil im Elternhaus oder der Ehe etwas schief ging oder gegangen war. Besonders die schweren Fälle – schwere Fälle, wie Andreas einer war – erzählten im Netz freimütig, durch welche Hölle sie in ihrer Kindheit und Jugend gegangen waren.
Therapien gab es. Viele. Gerade in den Foren, in denen sich die Betroffenen austauschten, merkte man, dass es mehr als einen Lösungsansatz gab. Handelte es sich um ein reines Trauma – zum Beispiel, weil jemand in einen Überfall geraten war -, konnte man mit einer Verhaltenstherapie und ein paar Gesprächen helfen.
Lag der Hund an anderer Stelle begraben, wurde es schwieriger. Es gab Medikamente gegen die schwersten Symptome, Konfrontationstherapien, Gruppentherapien, Familientherapien, Psychoanalyse, psychotherapeutische Betreuung und noch vieles mehr.
Was Sascha herauszulesen glaubte, war, dass für Andreas sehr viele Gespräche nötig waren. Man musste kein Gedankenleser und nicht einmal besonders sensibel sein, um zu merken, dass er sehr allein und die Villa von Winterfeld menschlich kalt war. Hatte Tanja nicht auch so etwas gesagt? Dass Andreas als Kind auffallend dankbar für jedes liebe Wort gewesen war?
Als Sascha glaubte, halbwegs verstanden zu haben, wie die Krankheit funktionierte, stützte er das Kinn auf seine
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