Leben im Käfig (German Edition)
spürte Andreas nicht einmal einen Hauch von Bitterkeit. Er war noch nie auf einer Party gewesen – das Gartenfest zählte nicht – und er konnte sich auch nicht vorstellen, was daran toll war, sich zusammen mit wild knutschenden, balzenden, umeinander tanzenden Heterosexuellen die Kante zu geben. Sein Bier konnte er auch daheim trinken und die Balzrituale der anderen Jugendlichen würden ihn nur deprimieren. Das brauchte er nicht.
Seine eingeschlafenen Beine kribbelten, als er von der Fensterbank glitt. Wie ein Wiesel wand er sich auf seinen zu eng am Schreibtisch stehenden Stuhl und startete sein Spiel. Ein Blick in die Kontaktliste sagte ihm alles, was er wissen musste.
„Yesss“, zischte er durch die Zähne. Sascha war da. Perfekt.
„Hey, Mann“, tippte er eilig. “Alles klar bei dir?“
Mit leuchtenden Augen starrte er auf den Monitor und spielte unruhig mit dem Kabel seines Headsets. Gierig wie ein Seehund vor der Fütterung wartete er auf die Antwort, die allzu lange nicht kam. Vielleicht war Sascha gerade in einem Match oder gar nicht am Rechner? Ach bitte nicht ...
“Hi.“
Fünf Minuten Wartezeit und zwei Buchstaben? Andreas runzelte die Stirn. Keine Antwort auf seine Frage. Gut, es war nur eine Floskel, die man geflissentlich ignorieren konnte. Oder nicht?
Er erinnerte sich an den zerschlagenen Eindruck, den Sascha bei seinem letzten Besuch gemacht hatte. War das Drama mit seinen Eltern in eine neue Runde gegangen?
Nachdenklich nagte er an seiner Unterlippe.
Dies war einer der Momente, in denen er sich wünschte, frei zu sein. Ein normaler Mensch wäre jetzt nach drüben gegangen, hätte geklingelt und gefragt, ob alles in Ordnung war. Wäre für einen traurigen Freund, der gerade nicht wusste, wie ihm geschah, da gewesen.
Andreas konnte das nicht leisten.
Aber vielleicht las er auch zu viel in die Sorgen des anderen hinein. Sascha war bestimmt nicht so überempfindlich wie er selbst. Bei genauer Betrachtung konnte Andreas sich nicht vorstellen, dass der Ärger mit den Eltern Sascha schwer mitnahm. Er wirkte dafür zu selbstbewusst, ausbalanciert und fröhlich. Oder war er das nur im Vergleich zu Andreas?
Verdammt, er machte sich zu viele unsinnige Gedanken. Viel zu viele.
Begierig auf mehr Kontakt schrieb er: „Wie sieht es aus? Machen wir zusammen ein Spiel? Oder hast du Bock rüberzukommen? Ich habe vorhin Prince of Persia bekommen und bis jetzt noch nicht angeschaut.“
Wieder dauerte es viel zu lange, bis ein paar Buchstaben vor ihm auftauchten: „Geht nicht. Ich gehe auch gleich wieder offline.“
Unsicherheit kroch zäh durch Andreas' Arme und lähmte seine Finger. Das klang nicht gut. Stellte sich nur die Frage, ob der kurz angebundene Ton mit ihm zu tun hatte. Bestimmt. Womit sonst. Immerhin hatte er sich gestern nicht mit Ruhm bekleckert. Ein anderer Mensch hätte die Sache vermutlich auf sich beruhen lassen, aber Andreas konnte das einfach nicht. Nicht, wo er bei ihrer letzten Begegnung zu viel geredet hatte. Er musste es genauer wissen. Seine Fingerkuppen fühlten sich taub an, als er zögernd fragte: „Ist alles in Ordnung bei dir da drüben?“
Die Aussicht auf eine Antwort machte ihm Sorgen; besonders, da Sascha sich ein weiteres Mal viel zu viel Zeit ließ, seine Frage zu beantworten. Schließlich lächelte Andreas fast erleichtert – und kam sich deswegen ein bisschen fies vor -, als er las: „Nicht wirklich. Hab's mit dem Magen und so. Mir geht es nicht so toll.“
„Oh, Mist. Dann gute Besserung. Du kannst dich ja mal melden, wenn es dir besser geht.“
„Okay. Danke. Ich gehe jetzt wieder ins Bett.“
„Mach das. Wir sehen uns.“
„Ciao.“
Armer Sascha. Andreas schüttelte es innerlich. Magen-Darm-Grippen kursierten zurzeit überall und waren etwas wirklich Gemeines. Da war er direkt froh, dass Sascha nicht zu ihm gekommen war. Er hatte genug Probleme, auch ohne dass er die Nacht auf den Fliesen vor der Toilette verbrachte. Trotzdem, es tat ihm leid.
Vielleicht sollte er morgen ein paar Filme aussuchen und Ivana bitten, sie nach drüben zu bringen. Das wäre doch sicher eine nette Geste, oder? Dann konnte Sascha sich die Zeit vertreiben. Heute aber noch nicht. Es wäre wohl zu aufdringlich und außerdem konnte der Kranke sich sicher nicht auf einen guten Film konzentrieren, wenn er zwischendurch kotzte wie ein Reiher.
Schade. Enttäuscht stand Andreas auf und legte sich hin. Er bettete den Hinterkopf auf seine Arme. Heute würde er seinen Schuss
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