Leben im Käfig (German Edition)
nicht den ganzen Besuch im Traumland verbringen.
Sascha holte tief Luft und wandte sich ihm zu: „Macht doch nichts. Hör mal, kann ich dich etwas fragen?“
„Hm ... klar“, murmelte Andreas. Er ahnte schlagartig, dass sein Freund ihn nicht nur darum bitten wollte, ihm ein paar Filme auszuleihen. Sie schnitten selten ernste Themen an, aber dieses Mal sah es aus, als würde er nicht darum herumkommen. Bestimmt wollte Sascha wissen, warum er nachts nicht geschlafen hatte. Die Wahrheit konnte er ihm unmöglich sagen.
„Kann es sein, dass es dich nicht mehr nervös macht, wenn ich hier bin?“
Aus dem Konzept geworfen sah Andreas auf: „Was?“
„Na, anfangs warst du immer zappelig, wenn ich hier war. Mir ist vorhin aufgefallen, dass das irgendwie vorbei ist. Ich meine ... wenn du noch nervös wärst, wärst du nicht eingeschlafen, oder?“
Die Erkenntnis traf Andreas wie ein Faustschlag. Unfähig, etwas zu sagen, nickte er langsam. Viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um eine vernünftige Antwort zu formulieren.
Innerlich blickte er zurück auf die letzten Tage und besonders diesen Nachmittag.
Sascha hatte recht. Abgesehen von seinem kleinen Geheimnis war ihm irgendwann in der letzten Woche die Nervosität abhandengekommen. Er hatte sich an Sascha gewöhnt, wünschte sich sogar, er wäre ständig bei ihm. Zum Reden, zum Spielen, zum Entspannen und für die anderen Sachen, die nicht infrage kamen. Er fühlte sich vollständig, wenn sie zusammen waren. Vollständig, wie nie zuvor in seinem Leben.
Viel später, als Sascha längst daheim war, stand Andreas gedankenverloren am Fenster. Ein neues Bewusstsein verwirrte seinen Geist und seine Gefühlswelt.
Wenn man jemandem unbedingt nahe sein wollte ... wenn man ständig an seinen Mund, seine Hände und seinen aufregenden Körper denken musste ... wenn man jede gemeinsam verbrachte Minute genoss ... wenn man demjenigen vertraute wie niemandem sonst ... wenn man sich unterhalten konnte und zusammen Spaß hatte ... wenn man zusammen schweigen konnte ... wenn es nur einen einzigen Menschen gab, den man immer bei sich haben wollte, hatte das nicht mehr ausschließlich mit Geilheit oder Freundschaft zu tun.
Dann hatte man sich verliebt.
Kapitel 17
„Sascha, Sie bleiben bitte noch einen Moment hier.“
Es klang nicht nach einer Bitte, eher nach einem freundlich formulierten Befehl, dem es zweifelsohne Folge zu leisten galt. Nach der schlechten Erfahrung vom Vortag in Sachen Deutschlehrerin erwartete er nicht viel von dem strengen Lehrer namens Wallraff, der den Geschichtsunterricht abhielt.
Zu Beginn des Unterrichts war Sascha beinahe vom Glauben abgefallen, als der Kurs bei Eintreten des Lehrers auf die Füße sprang und strammstand. Seitdem schwankte er zwischen Faszination und Unglauben. Während seiner gesamten Schullaufbahn hatte er nie einen so strengen Lehrer gehabt, der innerhalb von zwei Stunden so viel Wissen vermittelte. Respekt hielt den Kurs ungewöhnlich ruhig.
Als Sascha sich zu fragen begann, woher diese Form von Ehrerbietung rührte, bekam er es vorgeführt. Zwei Schülerinnen flüsterten miteinander und durften prompt an der Tafel Aufstellung nehmen, um sich einem Kreuzverhör an Geschichtsfragen zu stellen. Dabei konnte man nicht sagen, dass Herr Wallraff unfair oder bösartig vorging. Seine Fragen waren schwer, aber lagen nicht im Bereich des Unmöglichen. Außerdem legte er eine Art gutartigen Spott an den Tag, der die Mädchen zum Grinsen und Erröten zugleich brachte.
Ein seltsamer Kauz. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Lehrer der alten Schule.
Während die anderen Schüler den Raum verließen, packte Sascha seine Sachen zusammen und schlenderte nach vorne zum Pult. Herr Wallraff saß bequem auf der Tischkante. Seine beige Cordhose wirkte wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit.
„So“, sagte der Lehrer ernst und rieb sich die Hände. Sein Gesichtsausdruck war nicht unfreundlich, aber seine straffe Körperspannung erinnerte an einen General. „Mit vierzehn Punkten kommen Sie her und ich hoffe, Sie wollen auch dabei bleiben.“
Sascha machte eine breit zu interpretierende Miene: „Denke schon. Wenn ich kann.“
Herr Wallraff zog amüsiert einen Mundwinkel nach oben: „Ich habe nicht gefragt, ob Sie können, sondern ob Sie wollen. Ich habe mit Ihrer Lehrerin an Ihrer alten Schule telefoniert und weiß jetzt, was Sie bisher durchgenommen haben. Leider haben die Bundesländer es immer noch nicht
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